Metamorphose einer Partei

Kurze Geschichte der SPD von 1998 bis 2005: von der Kraft des Neuen zur Heuschreckenplage. von stefan wirner

Die Verpuppung

Deutschland ist ein innovatives Land, eine »Ideenfabrik«. Es gibt »mehr Arbeitsplätze«, »mehr soziale Gerechtigkeit«, eine »bezahlbare Gesundheit«, einen »Aufbruch in der Frauenpolitik«, und der »Aufbau Ost« wird »Chefsache«. Die Bürokratie arbeitet effektiv, die Menschen sind flexibel und zu jedem Risiko bereit. »Wir warten nicht ab und gucken zu, wir trauen uns was. Wir sind bereit. So einfach ist das.« Ja, so einfach ist das, und so steht es in der SPD-Wahlbroschüre von 1998: »Wir sind bereit.«

»Wir müssen überfällige Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft rasch und entschlossen anpacken. Wer auch morgen sicher leben will, darf keine Angst vor Veränderungen haben«, therapiert Gerhard Schröder Land und Leute. Alles wird »effektiv«, »innovativ«, »flexibel« und ein bisschen »sozial gerecht«. Kein Tag vergeht ohne frohe Botschaft. Im Sommer 1998 kommt der Aufschwung allein deshalb, weil Schröder Kanzlerkandidat ist, sagt Schröder. Ständig wechseln die Plakate vor der SPD-Zentrale; einmal wird ein Schneemann gezeigt, darunter ist zu lesen: »Bald ist er weg.« Danach ein Plakat mit Helmut Kohl: »Er auch.«

Die Sozialdemokraten aber sind da wie die Bundeswehr. Sie sind eine starke Truppe, der Zukunft zugewandt. Sie schaffen, was noch niemand jemals geschafft hat: die Versöhnung des Kapitals und der Lohnabhängigen. Und so soll sie aussehen: »Jetzt sind wir alle gefragt. Ein bisschen weniger Sicherheitsdenken, ein bisschen mehr Offenheit für das Neue. Es wird Härten geben, und manche von uns werden Opfer bringen müssen.« Aber »die Grundsätze des Sozialen in dieser Gesellschaft werden wir verteidigen«, prophezeit Schröder. Auch der Sozialstaat soll »flexibler« und »effektiver« werden. Die Broschüre erläutert: »Das soziale Netz ist keine Hängematte. Es wird zum Trampolin: Es fängt den Springer auf und bringt ihn mit dem Schwung seiner Elastizität wieder nach oben.«

Viele wollen mitturnen, viele sind begeistert, Yuppies wie Arbeitslose. Wenn alle mithelfen, wird es möglich, die Arbeitslosenzahlen zu »halbieren« (Schröder). Denn jetzt kommt »die Kraft des Neuen«, »die neue Mitte«.

Die Verwandlung

Aber erstmal kommt der Kosovo-Krieg. Und dann kommen die Initiative Neue Marktwirtschaft, verlorene Landtagswahlen, eine Flut und noch mehr Kriege, von denen einer nicht mitgemacht wird. Dieter Hundt, der Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, stellt jede Woche neue Forderungen auf. Die Losung lautet: »Es gibt kein Recht auf Faulheit« (Schröder im April 2001). »Deutschlands Wirtschaft stagniert bereits im dritten Jahr. Die Arbeitslosigkeit ist weiter bedrückend hoch. Die sozialen Sicherungssysteme können die Anforderungen einer älter werdenden Gesellschaft nur schwer erfüllen«, heißt es im Jahr 2003 in der Broschüre der Bundesregierung zur »Agenda 2010«. Wie soll es nur weitergehen? Wird sich »Deutschland erneuern«, wie die Reklame der Bundesregierung ankündigt?

»Durch die Reformen auf dem Arbeitsmarkt werden Arbeitsuchende schneller vermittelt. Es gibt attraktive Anreize, sich selbstständig zu machen. Aber wer zumutbare Arbeit ablehnt, muss Kürzungen beim Arbeitslosengeld hinnehmen«, verspricht Rot-Grün.

Die bangen Fragen, die wie Drohungen klingen, lauten: »Sind die Reformen der Agenda 2010 sozial gerecht? Kann die Agenda 2010 wirklich Arbeitsplätze schaffen? Was ändert sich beim Kündigungsschutz? Was tut die Bundesregierung, um Langzeitarbeitslosen wieder zu einer Arbeit zu verhelfen?«

Die Entlarvung

»Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde, und ihnen wurde Macht gegeben, wie die Skorpione auf Erden Macht haben« (Offenbarung des Johannes). Die SPD verkündet das Armageddon. Der Shareholder-Value-Kapitalismus verhindert die Agenda 2010. US-amerikanische Unternehmen saugen Deutschland aus.

Und zu allem Ungemach droht auch noch eine »schwarze Republik«. »Die Angst vor der schwarzen Republik ist die einzige Hoffnung der SPD. Das Wahlplakat wird nach allgemeiner Einschätzung eine politische Landkarte der Bundesrepublik zeigen: Eine große schwarze Fläche mit kleinen roten Tupfern, die die letzten verbliebenen SPD-geführten Länder darstellen« (Spiegel-online).

Allein, die SPD verdirbt mit ihrer finsteren Ikonographie allen den Sommer, zu mehr reicht es nicht; Hysterie und Schlaflosigkeit drohen, aber kein Mensch hat Lust darauf. Was waren das für Zeiten, als Schröder in »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« auftrat! Jetzt sollen die Wähler noch mal ran, denn die Regierung kann nicht mehr. Wie Lafontaine im Jahr 1999 stiehlt sie sich davon. Und die sozialdemokratischen Hinterbänkler ärgern sich. Wo sollen wir morgen arbeiten?

Sozialdemokraten denken dialektisch im Jahr 2005: Dem Kanzler soll das Vertrauen entzogen werden, damit er weitermachen kann. Der Bundestag wird neu gewählt, weil der Bundesrat eine Blockademehrheit hat. Schuld an dem Desaster sind die anderen. Sigmar Gabriel, der Fraktionsvorsitzende der SPD in Niedersachsen, rekapituliert: »Die Grünen haben den Hang, Investitionsmaßnahmen, Planungsmaßnahmen und Innovationsmaßnahmen mit einer überbordenden Bürokratie zu befrachten, die uns daran gehindert hat, Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und zu sichern.« Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck prononciert, den Grünen fehle »bisweilen die Verlässlichkeit«, sie hätten sich oft »reichlich unfein« verhalten. Und Münterfering beichtet: Eine große Koalition »ist keine Sünde«. Er predigt »inhaltliche Schwerpunkte«, Spiegel online zufolge: »Erstens ›sozialer Fortschritt‹, worunter Müntefering sozial verträgliche Modernisierung des Landes versteht, zweitens Agenda 2010, drittens Deutschland als Friedensmacht.«

»Beten Sie für uns«, bat er einen Autogrammjäger auf dem Kirchentag in Hannover in der vorigen Woche. Dabei kommen Sozis eh nicht in den Himmel. Seit 1914 nicht mehr.

Der Kanzler aber freut sich auf sein Appartement in New York, von dem er schon im Jahr 2002 träumte, als die Bundestagswahl verloren schien. »Er inszeniert das Ende von Rot-Grün als Götterdämmerung« (Welt am Sonntag). Nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen »zeichnete Gerhard Schröder im Bundeskanzleramt familienfreundliche Unternehmen aus. In derart ausgelassener Stimmung hatte man ihn lange nicht erlebt, gelöst, einen Witz an den anderen reihend, als sei er gerade zum König von Deutschland gekrönt worden« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung).

»I got something to tell you / I got something to say / I’m gonna put this dream in motion / Never let nothing stand in my way« (»When the going gets tough, the tough gets going«, Song von Billy Ocean als Warteschleife im Telefonservice des Willy-Brandt-Hauses, Mai 2005).