Der Hype geht weiter

All die jungen neuen Rockbands sind gar nicht so aufregend. von michael saager

Wann es angefangen hat, ist nicht so wichtig. Vermutlich war es irgendwann im Jahr 2001, in New York, als die Newcomerband The Strokes eine Platte namens »Is This It« in die Welt warf. Zielgenau purzelte sie in die weit geöffneten Arme der internationalen Musikpresse. Die Platte kam so gut an, weil sie in eine Zeit fiel, in der viele wieder handgemachte, verschwitzte Musik hören wollten. Und zwar keine von alten Säcken – schon gar nicht von solchen, die seit Jahren mit ihren letzten Zähnen fest verbissen in den blöden Authentizitätsmythos stumpf ihren Stiefel runterrockten –, sondern Musik von gut aussehenden, blutjungen, mit Diskurswassern benetzten Hipstern, die hübsche Frisuren, zeitgemäße Klamotten und eine gewisse juvenile Arroganz zur Schau trugen.

Mit ihrem Zitathalden plündernden Retro-Rock-Verständnis erweckten die Strokes angenehme Mythen der Erinnerung zu neuem Leben; darüber hinaus taugte das Quartett bei seinen Fans als Rolemodel für die Konstruktion von Coolness. Rock, oder besser »Rock’n’Roll«, konnte mit Hilfe der Strokes endlich seinen muffeligen Geruch loswerden, konnte auf eine unschuldige, gleichzeitig ungemein hippe und scheinbar neuartige Weise das werden, was er seit seiner Erfindung durch seinen großen Freund, den Kapitalismus, immer schon gewesen war – ein heteromännliches Spektakel; ein musikalisch-diskursiv-habituelles Sensationsgefüge; vor allem aber ein einträgliches für alle Beteiligten: die Presse, die Musikindustrie, die Bands und ihre Hörer.

Als dann die erste große Sensations- oder Hype-Lawine aus New York unten im Tal angekommen war und ihre Energie vorerst verbraucht schien, war der Spaß nicht etwa vorbei, er ging erst los. Immer neue Namen kamen ins Spiel: The Libertines, Mando Diao, The Datsuns, Franz Ferdinand, Bloc Party und ungefähr hundert weitere – mal stumpf, mal schräg, mal arty; anfangs eher die sechziger, später dann die wavigeren achtziger Jahre ins Boot ziehend. Begackert, wie von Hühnern der letzte Krümel im Hof, wurde seit 2001 dann wenigstens jede zweite halbwegs brauchbare Retro-Rockgruppe, von der Musikpresse hierzulande genauso wie in England und in den USA.

Die seit dem Debüt der Strokes wie Pilze aus dem Boden geschossenen Retro-Rockbands und ihre Fans waren seither die materielle Lebensversicherung für die in allerkürzesten Abständen Hysterie-Wellen schlagende Musikpresse. Im Modus leidenschaftlichen Hypens konnte sie sich anscheinend auch ihrer eigenen Lebendigkeit versichern und das sein, was sie ohnehin am liebsten sein wollte: ein glücklich glotzender Fan, der die Dinge so richtig geil finden darf, ohne Wenn und Aber. Auf ihre Weise spielten die Bands nur zu gerne mit.

So weit die Geschichte des Rockhypes. Aber was heißt hier »Geschichte«, wenn diese Art von extrem zitatverliebter und zitatausstellender Rockmusik, vor allem aber der Hype um sie, nicht nur bis in die Gegenwart reicht, sondern auch die Zukunft bestimmen dürfte? Die Gegenwart, das sind unter anderem Hot Hot Heat, The Bravery oder Maximo Park; und die Zukunft dürfte bestellt werden von Bands mit Namen wie Kaiser Chiefs, Bowery, The Dogs und natürlich noch einmal von Franz Ferdinand, diesen Herbst.

Unbeirrbar schreibt sich der Retro-Rockhype weiter fort und weist dabei einer Masse verblüffend ähnlich klingender Bands ein Maß an Bedeutung zu, das sie ohne ihn zweifellos nicht hätten. Aber obwohl anscheinend alles einigermaßen gleich bleibt, obwohl also das Debütalbum der englischen Band Maximo Park mit Hilfe netter Retro-Rock-Pop-Songs und eines jugendlich wirkenden Dandys am Mikrophon »dein Leben rettet«, indem es angeblich alles bisher da Gewesene locker in den Schatten spielt und deshalb ganz dringend aufs Cover von gleich zwei deutschsprachigen Popkulturmagazinen musste, hat sich doch auch manches geändert. Zunehmend kommt es zu müdem Achselzucken, wenn man die Sprache auf die neueste Platte einer Retro-Rockband bringt. Ob die abweisende Reaktion der erste zaghafte Ausdruck eines kollektiven Überdrusses ist? Vielleicht.

Interessanter scheint die Veränderung in der Art und Weise hypender Berichterstattung. Es ist schwer zu sagen, wann genau das war, aber irgendwann klappte es mit dem Drauf-los-Hypen nicht mehr. Wohl aufgrund der Einsicht, dass dieses Spiel ein bisschen zu lange gespielt worden war und man als »guter« Musikjournalist seiner Glaubwürdigkeit verlustig gehen könnte, entstand deshalb eine Meta-Rhetorik der vorweggeschickten Entschuldigung, gestrickt nach dem Muster: Ja, schon klar, wir wissen, ihr könnt es nicht mehr lesen, und eigentlich habt ihr ja auch vollkommen Recht, aber…

Nach diesem »Aber« allerdings ging und geht es weiter wie gewohnt: mit einer intensiven, vielleicht sogar noch intensiveren Form affirmativer Abfeierei der nächsten Sensation; in einer Sprache, die ihren cool-schwitzigen Rock’n’Roll-Gegenstand mimetisch einzufangen sucht, was ja nicht unbedingt schlecht ist, aber rasch langweilig wird, wenn diese Schreibweise die einzige ist. Vielleicht sollte man hinzufügen, dass jeder Hype, so man sich erst auf ihn eingelassen hat, eine naiv euphorische, also eher reflexions- oder analysearme Weise des Schreibens zumindest nahe legt: Die Logik der Sensation verträgt das Zerdenken nicht gut. Und erkennbar wird der Hype schließlich erst über eine wieder erkennbare Form von Sprachlichkeit.

Noch etwas hat sich geändert. Anfangs schien es den meisten Musikjournalisten eine diebische Freude zu bereiten, die zahllosen Original-Referenzen der zitierenden Bands zu benennen bzw. herbeizufantasieren. Das ist seit einiger Zeit vorbei. Die Musik der Zitat-Rockgruppen wird verstärkt als etwas Originäres, grundlegend Einzigartiges beschrieben, wofür es wenigstens zwei Gründe geben mag. Zum einen sind es viele Musikjournalisten leid, sich auch noch in diesem Mikrosegment inhaltlicher Beschreibung immerfort nur zu wiederholen. Zum anderen existiert das Phänomen Retro-Rock schon so lange auf einem derart hohen Level ubiquitären Vorhandenseins, sind also die Erinnerungsspuren so gründlich abgefahren, dass man meinen könnte, die zitierte Vergangenheit hätte es ohnehin nie gegeben. Anders gesagt: Das »Neue« hat so stark auf seinem Recht gegenwärtiger Relevanz beharrt, dass es inzwischen unwichtig geworden ist, ob es sich um das »Original« oder das Plagiat handelt. Warum also sollte man noch länger darauf rumreiten?

Mehr noch: Retro-Rockbands vergleichen sich längst überaus offensiv untereinander, was einigermaßen nahe liegt, da sie auf einem identischen Markt bisweilen zum Verwechseln ähnliche Waren anbieten. Bei diesen Bandstreitereien geht es häufig um so etwas an sich schon Unsinniges wie die »wahre« Autorschaft einer Signatur, in diesem Falle die Autorschaft an einem Riff, einem Melodiebogen, dem Sound, den Songs etc. Auch die Presse gleicht inzwischen Retrobands miteinander ab, wobei es bei diesen Bandvergleichen auch um eine höhere Verständlichkeit des Aktuellen gehen dürfte. »Elevator«, die jüngste Platte von Hot Hot Heat, mit den beiden Alben der Strokes zu vergleichen, ist nicht nur bequemer, es scheint auch weit einleuchtender als der Rekurs auf eine Vergangenheit, die ja im Grunde schon gar nicht mehr vorhanden ist. Die Vergangenheit wurde von der Gegenwart eingeholt und einverleibt.

Der Hype wird weitergehen. Solange es genügend Retro-Rockbands gibt, die neue Bandgründungen nach sich ziehen; solange die Musikpresse kein attraktiveres Spielzeug gefunden hat; solange sie diese irre Angst hat, etwas »Heißes« zu verpassen; solange sie meint, in der Konstruktion von Hypes liege ihre Bestimmung; solange genügend Geld in die immer schon vorgegebenen Richtungen fließt. Aber wer weiß? Irgendwann wird er sich vielleicht einfach davonschleichen, der Retro-Rockhype. Und kaum einer wird es bemerken. Denn das ist die bevorzugte Bewegungsart von Hypes: laut kommen, mehr oder weniger lange rumnerven und ganz leise gehen. Die Retro-Rockbands werden dann vielleicht etwas komisch gucken, aber weiter machen. So lange, bis sie in ihrem Hang zum Revival in etwa zehn Jahren in den Neunzigern angekommen sind.