Tod eines Kritikers

Der libanesische Journalist Samir Kassir wurde ermordet. Wenige Wochen vor seinem Tod sprach alfred hackensberger mit ihm in Beirut

Wie jeden Tag ging Samir Kassir auch am Donnerstag der vergangenen Woche gegen halb elf Uhr aus dem Haus. Er überquerte die Straße und ging zu seinem hellbeigen Alfa Romeo. Als er den Zündschlüssel drehte, explodierte eine unter dem Fahrersitz versteckte, dreiviertel Kilo schwere Bombe. Samir Kassir, einer der bekanntesten Journalisten des Libanon und Symbolfigur der Oppositionsbewegung, war sofort tot.

Der 45jährige, ursprünglich aus Palästina stammende Christ schrieb seit 1988 eine wöchentliche Kolumne für die Titelseite von an-Nahar, der größten und wichtigsten libanesischen Tageszeitung. »Fehler auf Fehler« lautete die Überschrift seines letzten Artikels, in dem er zum wiederholten Male Syrien und die dort regierende Ba’ath-Partei kritisierte. Die syrische Hegemonie und die Verfilzung des libanesischen und des syrischen Geheimdienstes waren die Hauptthemen seiner journalistischen Arbeit. Seine Analysen stießen stets auf das Missfallen des Sicherheitsapparats, der ihn für einen nörgelnden Querulanten hielt. Ein Störenfried, der die »Unantastbarkeit« der Geheimdienste öffentlich in Frage stellte. Nach einem Artikel im Jahr 2001, in dem er den Direktor des libanesischen Geheimdienstes persönlich kritisiert hatte, wurde er monatelang rund um die Uhr beschattet.

»Für mich ist der Libanon ein Polizeistaat«, sagte Samir Kassir Ende März in einem Gespräch mit der Jungle World. »Das Land wird von einer kleinen Clique regiert, die sich aus Geschäftsleuten, Geheimdienstoffizieren, Mafiachefs und einigen wenigen Politikern zusammensetzt.«

Aber diese Zeit sei nun vorbei, fügte der Kettenraucher zufrieden hinzu. »Die Massendemonstrationen auf dem Märtyrer-Platz haben gezeigt, dass die Menschen, insbesondere die jungen, müde von der Herrschaft der Geheimdienste und alter Cliquen sind.« Die Demonstrationen seien viel größer als nur die Summe der einzelnen politischen Gruppen. »Da passiert etwas ganz Neues. Selbst extreme christliche Gruppen werden integriert und bekommen in der Gemeinschaft für Unabhängigkeit ein neues positiveres Bild von den sonst so geschmähten Moslems.«

Mehrfach trat Kassir, der auch an der Universität St. Joseph lehrte, als Redner auf dem Märtyrer-Platz auf. Die Neue Linke Bewegung, zu deren Gründern er zählte, spielte eine wichtige Rolle bei der Organisation der Demonstrationen. »Bei all dem geht es darum«, glaubte er, »die politische Landschaft umzugraben und an das demokratische Erbe des Libanon vor dem Beginn des Bürgerkriegs anzuknüpfen. Wir brauchen keine Lektionen aus den USA in Sachen Demokratie.«

Die syrische Hegemonie der letzen Jahrzehnte habe den Libanon in vielerlei Hinsicht gelähmt. »Die Überwachungs- und Zensurmaßnahmen verhinderten in den neunziger Jahren, als Beirut wieder aufgebaut wurde, dass die Stadt, wie vor dem Krieg, erneut zum Medienzentrum der arabischen Welt wurde. Heute ist das unangefochten Dubai.« Ebenfalls eklatant sei der Einfluss des Regimes im Bildungsbereich gewesen. Die Paranoia des Sicherheitsapparates verhinderte freie Debatten an der nationalen Universität und zerstörte den unabhängigen Lehrbetrieb. »Deshalb gibt es heute zwölf private Universitäten, deren Sinn und Zweck es ist, Geld zu machen. Profit für eine politische Elite, die mit Syrien verfilzt ist.«

Jahrelang stand Samir Kassir auf der schwarzen Liste aller libanesischen Fernsehanstalten. Erst im Zuge der Massenproteste wurde der Journalist und Autor mehrerer Bücher wieder zu Interviews eingeladen. »Es ist schon absurd. In anderen arabischen Ländern, wie beispielsweise Marokko, waren meine Analysen und Kommentare gefragt, nur im eigenen Land durfte ich kein Wort im Fernsehen sagen«, meinte er schmunzelnd.

Für ihn stand unumstößlich fest, dass die Ermordung des ehemaligen Premierministers eine gemeinsame Aktion des libanesischen und des syrischen Geheimdienstes war. Offiziell habe Hariri zwar noch nicht der Opposition angehört, aber hinter den Kulissen sei bekannt gewesen, dass er sich ihr bald anschließen würde. Der Drusenführer Walid Jumblatt habe schon lange gewusst, dass Hariri die Opposition und ihre Medienkampagne und den Wahlkampf finanziell unterstütze. »Hariri war eben ein geduldiger Mensch. Er hat mich angerufen und gebeten, nicht so hastig vorzugehen. Die politisch Verantwortlichen arbeiten doch für uns, in dem sie einen Fehler nach dem anderen machen.«

Samir Kassir war sich der Gefahr, die seine Arbeit und vor allen Dingen seine unerbittliche Haltung gegenüber den Regierenden mit sich bringt, durchaus bewusst. »Ich werde seit Jahren bedroht, warum sollte ich nun, da wir so weit gekommen sind, plötzlich aufhören?«

Mit dem Beginn der Parlamentswahlen am vorletzten Sonntag schien sich die Lage im Libanon wieder zu beruhigen. Nach dem Abzug der syrischen Truppen konzentrierten sich Politiker und Bürger auf die ersten »freien Wahlen« seit mehr als dreißig Jahren. Die Bombenanschläge der letzen Monate in den christlichen Vierteln von Beirut waren vergessen.

Nach der Ermordung Samir Kassirs geht nun wieder die Angst um: Wer kann, wer wird der Nächste sein? Vor kurzem meldeten die Tageszeitungen an-Nahar und al-Mustaqbal, dass drei führende syrische Geheimdienstler in den Libanon zurückgekehrt seien. Viele vermuten, dass sie für das Attentat verantwortlich sind. Sollte sich das bestätigen, wäre es für Syrien ein politischer Selbstmordanschlag. Das Regime von Bashir Assad steht international bereits so unter Druck, dass jedes weitere Attentat im Libanon die Situation verschärft. Doch die Entwicklungen im Libanon können auch nicht mit Terroranschlägen rückgängig gemacht werden. Nach den ersten beiden Wahlgängen in Beirut und im Südlibanon ist sicher, was bereits seit langem prognostiziert wurde: Die Opposition wird die Parlamentswahlen souverän gewinnen. Eine Reform und Umstrukturierung der staatlichen Institutionen, insbesondere der Sicherheitskräfte, scheint unausweichlich.

Unbequem war der Kolumnist Kassir allerdings nicht nur für die herrschende, prosyrische Machtelite. Er räumte mit den »Widerstandsklischees und Mythen« der Hisbollah auf, kritisierte die Rechtslastigkeit der »Libanese Force« und rügte auch Michel Aoun, den einst von den Syrern ins französische Exil beorderten ehemaligen General, wegen seines Wahlbündnisses mit prosyrischen Parteien.

»Man hat Samir nicht wegen seiner journalistischen Brillanz getötet«, meint Nassib Lahoud, ein oppositioneller Parlamentsabgeordneter und Freund Kassirs. »Samir wurde ermordet, weil er Teil des libanesischen Frühlings war, ein Teil der Opposition. Das Attentat zeigt uns: Der Kampf mit dem Geheimdienstapparat ist nicht zu Ende, der Weg in die Demokratie ist kein leichtes Unterfangen.«