Weiche Schale, harter Kern

Die Erweiterung der EU bietet den Ländern Südosteuropas eine Perspektive und kann die Macht der Kerneuropäer beschränken. von markus bickel, sarajevo

Als die Bertelsmann-Stiftung Anfang Juni Staatspräsidenten, Premierminister und hochrangige Wirtschaftsvertreter zu einer Konferenz unter dem Titel »Südosteuropa auf dem Weg in die Europäische Union« nach Zagreb lud, lag das gescheiterte Verfassungsreferendum in den Niederlanden gerade zwei Tage zurück, die französische Ablehnung eine knappe Woche. Besorgte Minister, nachdenkliche Diplomaten, aber auch ungetrübt investitionsfreudige Konzernchefs tummelten sich im »Illyrischen Saal« in der barocken Oberstadt der alten habsburgischen Metropole. Vom drohenden »Verlust der Glaubwürdigkeit des europäischen Projektes« war zu hören, davon, »dass der Frieden nie selbstverständlich« sei, vom »schwarzen Loch Balkan« und von der Gefahr, rechte Populisten könnten ihrem Sieg im Ratifizierungprozess eine noch schärfere Anti-EU-Propaganda folgen lassen.

Kaum verwunderlich, dass es an Warnungen vor negativen Folgen für die auf den EU-Beitritt hoffenden Länder auf dem Balkan nicht mangelte. Kurzum, der Schock saß tief, vor allem auf Seiten der Repräsentanten der EU. Ganz gelassen blieb hingegen der kroatische Premierminister, Ivo Sanader: »Wir, die wir an der Schwelle stehen, erwarten, dass die eingetretene Ermüdung nicht Oberhand gewinnt.« Mit ein wenig Optimismus sollten die Befürworter der Erweiterung in Brüssel und in den Hauptstädten Europas »das Nein als Chance« begreifen, schließlich liege der Zusammenschluss des Kontintents, die »Erfüllung des alten europäischen Traums«, greifbar nahe. Diesen könne man nicht kampflos den Einigungsgegnern opfern, gab der kroatische Konservative zu bedenken: »Ich kenne keinen Pessimisten, der sein Ziel erreicht hätte.«

Und es stimmt. In einigen Jahren könnten die beiden gescheiterten Referenden tatsächlich nur noch Fußnoten in der endlosen Liste fauler Kompromisse sein, mit denen die Integration der EU-Staaten auf supranationaler Ebene langfristig festgelegt werden sollte. Wie viele so genannte historische Gipfel sind seit Maastricht 1991 denn vergangen? Essen, Amsterdam, Kopenhagen, Nizza. Einen vergessen? Und worum ging’s da eigentlich? Europa ist schon oft gescheitert, und da die erweiterte Union sich wie die alte mit Regierungskonferenzen durchhangeln wird, ist die Verfassungsfrage für die künftige Formierung der EU derzeit nebensächlich. Den vorläufigen Schlusspunkt der Referendumskrise stellt das Aussetzen des Ratifizierungsprozesses auf dem EU-Gipfel in Brüssel am Wochenende dar.

Stattdessen rückt die Frage in den Mittelpunkt, inwieweit künftig Befürworter der Erweiterung und Anhänger einer stärkeren Integration des bestehenden 25-Staaten-Blocks aneinander geraten. Schon sind Veränderungen in der politischen Auseinandersetzung bemerkbar: Deutsche und österreichische Konservative, geeint in ihrem Kampf gegen einen Beitritt der Türkei, beginnen leise gegen eine zu rasche Aufnahme Rumäniens mobil zu machen, obwohl dem Land wie Bulgarien der Beitritt im Jahr 2007 in Aussicht gestellt ist. Danach sollte Kroatien folgen, seit der Anerkennungsdebatte 1991 protegiert von den Regierungen in Wien und Berlin, unabhängig davon, welche Parteien die jeweilige Regierung stellten.

Die Schnittmengen zwischen Verfassungs- und Erweiterungsgegnern sind unübersehbar: Rechtspopulisten in Frankreich und den Niederlanden fordern seit Jahren eine restriktivere Asyl-, Visa- und Migrationspolitik, französische Sozialisten verteidigen ebenso wie Globalisierungskritiker zunächst den eigenen Hof. Warum sich das Armutsgebiet Kosovo an den Hals hängen, wenn dort die 35-Stunden-Woche noch nicht durchgesetzt ist? Die Sichtweise, dass die in Frankreich und den Niederlanden abgelehnte, neoliberal zugeschnittene Verfassung Repräsentanten eines künftigen EU-Mitglieds Mazedonien immer noch mehr Mitspracherechte im Ministerrat und der europäischen Kommission sicherte als keine, scheint sich außerhalb Südosteuropas noch nicht herumgesprochen zu haben.

Wie es mit der Annäherung der früheren jugoslawischen Staaten weitergeht, ist daher offen, trotz der Zusagen vom Gipfel in Thessaloniki 2003, allen Staaten des Westbalkans (Kroatien, Serbien-Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Albanien) die Aufnahme in die Union zu ermöglichen. Entlang der Erweiterungsfrage werden künftig die Fronten in Kommission, Rat und den anderen EU-Organen abgesteckt; schon in den Beratungen über den Etat zwischen 2007 und 2013 dürften die Konflikte offen ausbrechen. Die vertiefte Integration hingegen, die Entwicklung Kerneuropas als international in allen Bereichen wettbewerbsfähiges supranationales Gebilde also, dürfte erstmal hintangestellt werden. Manch selbst ernannter Kritiker der EU-Bürokratie im »Moloch Brüssel« könnte das im Dezember 2000 in Nizza vereinbarte Regulierungsprozedere schon bald als gar nicht so schlechten Kompromiss verteidigen.

Da mit Jacques Chirac und Gerhard Schröder die beiden stärksten Befürworter eines mit den USA gleichwertigen Kerneuropa durch innenpolitische Probleme behindert werden, bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig, als in der Frage der Südost-Erweiterung Normalität zu demonstrieren. Das heißt, der Abschluss von Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) bildet weiter die Voraussetzung für den Beginn von Beitrittsverhandlungen. Diese setzen sich zusammen aus einem Paket verbindlich vereinbarter Gesetze und Verordnungen im demokratischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Bereich, entnommen dem Acquis Communitaire der Union.

Wer die ausländerfeindlichen Tiraden vor den Referenden gehört hat, weiß, dass Konservative und Rechtspopulisten in Frankreich, den Niederlanden, in Deutschland und Österreich nicht zögern, ihre Politik gegen Nicht-EU-Bürger auszurichten. Kosmopolitische Flaute herrscht auch im Osten: Von Begeisterung bei den Bevölkerungen der Neumitglieder angesichts der vor ihrem Beitritt geschmiedeten Erweiterungspläne kann wahrlich keine Rede sein. Und auch hier stehen eines Tages wieder Referenden, zumindest aber Abstimmungen der Parlamente über die Aufnahme oder den Ausschluss des europäischen Südostens an.

Im besten Falle schieben bei einer Ablehnung die dann herrschenden Kräfte im Berliner Kanzleramt und im Elysée-Palast die gefassten Beschlüsse auf die lange Bank. Im besten Fall. Im schlechteren kommen in Belgrad, Sarajevo oder Pristina wieder jene Kreise an die Macht, die für die Konflikte der neunziger Jahre verantwortlich waren. Eine Wiederholung der kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa, wie sie Mitteleuropa das letzte Mal Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte, erscheint in Südosteuropa längst nicht ausgeschlossen. Kein Wunder, weniger als zehn Jahre nach dem Ende des Bosnien-Krieges und nur sechs Jahre seit den Nato-Bomben auf Belgrad.

Eine »Brückenfunktion zwischen altem, neuen und mittlerem Europa« sieht Kroatiens Premier Sanader in seinem Land, das einst die Schnittstelle zwischen dem Osmanischem und dem Habsburgischen Reich bildete. Eine Rolle, die die vorübergehend sozialistische Teilrepublik bereits vor über 100 Jahren inne hatte und die von Erweiterungsgegnern nun kurz vor ihrer Neuauflage in Frage gestellt wird. Welcher Progressive wollte einen solchen Rückschritt verteidigen? Weiter südlich, in Bosnien-Herzegowina und Serbien-Montenegro, hoffen Nationalisten bereits jetzt auf ein Scheitern des Annäherungsprozesses an die EU und stellen ihm ihr abgehalftertes Kriegsprojekt selbst regierter Ethnoparzellen entgegen. Bündnispartner für Internationalisten?

Die im vergangenen Jahrzehnt auseinander gestobenen jugoslawischen Republiken wieder unter einem Dach zu sehen, ist keine sozialistische Vision, ja, angesichts der Verfasstheit der Union nicht einmal eine demokratische. Der Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa aber täte es gut, den unterentwickelten südlichen Subkontinent in die EU aufzunehmen – mit Vergünstigungen für die Peripherie und zunächst sicherlich nicht zugunsten des Wohlstands in den Metropolen. In dem Maße jedoch, wie Kerneuropa seine Kräfte im Wettstreit mit den Triadenmächten USA und Japan durch eine fortschreitende Erweiterung schwinden sieht, schwinden auch die Chancen für eine Union von Stockholm bis Skopje.

Diese aber wäre bei aller Dominanz nationalstaatlicher Akteure im EU-Ministerrat ebenso wie auf den Regierungskonferenzen immer noch besser als der Status quo. Denn auch wenn die Irak-Krise gezeigt hat, dass die von Donald Rumsfeld zum »Neuen Europa« geadelten früheren sowjetischen Satellitenstaaten nicht immer nach der Pfeife tanzen, in die in Paris, Berlin oder Brüssel geblasen wird, haftet Polen, Balten und Tschechen bis heute das Image der Bittsteller an. Die erweiterte Union blieb bislang in den Händen des »Alten Europa«, und das muss sich ändern. Denn je größer die EU ist, desto mehr Sand gerät ins Getriebe der an innerer Konsolidierung interessierten Kerneuropäer. Das eröffnet politische Freiräume für die potenziellen Neumitglieder an der Peripherie. Da das gut ist und nicht schlecht, muss die Erweiterung befürwortet werden.