Einmarsch der Wahlküre

Wahlkampf 2005

Kassel, Frühjahr 1953, Obersekunda, Gemeinschaftskunde. Aufgefordert, ein Referat zu halten, hub Wahltraud, meine heimliche Liebe also an: »Ein Sprichwort sagt, es wird nie so viel gelogen, wie im Gerichtssaal, nach der Treibjagd und vor Wahlen.« Sie musste es wissen. Ihr Vater, Gutsbesitzer, ein hohes Tier bei der FDP, kandidierte zum zweiten Mal für den Bundestag. Studienrat Niezel, der im Krieg einige Körperteile verloren hatte, hielt vorsichtig gegen. Die Alternativen zum Mehrparteiensystem seien bekanntlich der nationalsozialistische Führerstaat und der Totalitarismus des Ostblocks. Wir fügten uns murrend.

Wir waren jung, die Demokratie noch jünger als wir, und in Bonn wurden noch Weichen gestellt. War es gut, die Nazis zu rehabilitieren? Sollte die Bundesrepublik eine Wehr bekommen? Aussöhnung mit Frankreich? Westbindung oder Neutralität? Mitbestimmung in der Wirtschaft statt Führerschaft des Kapitals?

Die heutigen Hohlogramme aller Parteien machen den Wahlkampf 2005 zum Wahlkrampf. Einen Vorgeschmack haben wir schon. Bild zeigt uns das Aneurysma in Gysis Kopf und Lafontaines neuen Gartenzaun als Beweis für ihre Wahlverwandtschaft. Wir sehen Stoiber im Trachtenanzug, wie er seine Alte busserlt. Porsche-Boss Wiedeking gibt den guten Kapitalisten. Klaus Staeck hält zum 100. Mal die SPD für eine Alternative zu irgendwas.

Manche meinen, das Theater sei unnötig und behaupten: »Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.« Das ist albern. Kaum ein Mensch glaubt im Spaß, dass Wahlen etwas ändern. Lange bevor klar war, dass die Probleme nicht durch Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer gelöst werden, waren die Machtverhältnisse, die ihr entgegenstünden, allen Vernünftigen bekannt. Die Menschen wollen wählen, auch wenn es nichts zu wählen gibt. Das merken sie dann, wenn es verboten ist.

Wählen ist wie Fußball oder Ficken. Es ist eine Art, sich Illusionen zu machen, zu streiten, zu freuen, wohl zu fühlen. Wenn der Weg schlecht ist, drischt man auf die Gäule ein, und wenn die Gäule ausgepumpt sind, wählt man frische, statt einen anderen Weg zu nehmen.

He, Köhler, reiß dich zusammen! Wählen ist die zeitgemäße Methode, durch die das Kapital die leitenden Angestellten seiner staatlichen Administration austauschen lässt, wenn niemand mehr die verbrauchten Gesichter sehen mag. Das Wählen trägt zum sozialen Frieden bei. Ein guter Wahlkampf ist vergleichbar mit den üblichen Stumpfsinnigkeiten der Freizeitindustrie, ein Event mit Kitzelwirkung. Und er ist im Übrigen unvermeidlich. Man stelle sich vor, es sind Wahlen und keiner kämpft. Keiner behauptet, er könne es besser, und nicht nur das.

Denken Sie auch an die Arbeitsplätze, die geschaffen werden: In der Brillenindustrie, dem Schneider- und Friseurhandwerk, der Werbebranche. Jeder Wahlkrampf ein kleiner Boom. Für Caterer, die Hersteller von Fähnchen, Kugelschreibern, Lautsprechern, Topfpflanzen.

Wer besorgt die Musik, wenn Merkel, die Wahlküre, einmarschiert wie Henry Maske zu »Conquest of Paradise«? Wer die riesigen Monitore, damit sie erscheine wie einst Stalin und Mao auf den Transpis zum ersten Mai?

Also auch diesmal wieder: Keine Alternative zum herrschenden Irsin! Viva l‘anarchia!

peter o. chotjewitz