Kleiner Grenzverkehr

Zigarettenschmuggel, Repression, Zensur und eine polnische Minderheit, die für ihre nationalen Interessen kämpft: Eine Zugfahrt über den ostpolnischen Grenzbahnhof Kuznica Bialostocka ins weißrussische Grodno. von jörg ciszewski

Routinemäßig und fast beiläufig schweifen die Blicke der polnischen Zöllner über die Reisedokumente und das Gepäck der Grenzgänger. An diesem am stärksten gesicherten Abschnitt der neuen EU-Außengrenze herrscht an diesem sonnigen Tag eine gewisse Beschaulichkeit. Es sind nur noch wenige Kilometer bis zur weißrussischen Grenze. Ziel der gemächlichen Fahrt im Nahverkehrszug durch das ländliche Podlachien im Osten Polens ist der polnisch-weißrussische Grenzbahnhof Kuznica Bialostocka. Hier enden die Gleise, auf denen die Züge aus Westen einfahren. Die Menschen steigen erschöpft aus ihren aufgeheizten Abteilen, in denen sich ein scharfer Geruch aus Knoblauchwurst, Alkohol und Schweiß breit gemacht hat. Die meisten schleppen sich und ihr Gepäck zunächst in die kühle Halle des baufälligen Bahnhofs. Es bleiben ihnen etwa vierzig Minuten bis zur Weiterfahrt nach Grodno (Hrodna), der mit 320 000 Einwohnern größten Stadt im Westen Weißrusslands, die von hier aus in etwa einer Stunde erreicht ist.

Es ist der einzige Zug, der von hier nach Osten fährt, und er wartet, von den übrigen Gleisen durch einen Eisenzaun getrennt, auf seine Fahrgäste. Nur wenige von ihnen nutzen vor der Abfahrt die Gelegenheit, eine der drei klapprigen Wechselstuben auf dem Bahnhofsvorplatz aufzusuchen. Die meisten Reisenden wissen, dass sie auf dem Schwarzmarkt in Weißrussland für Dollar und Euro mindestens doppelt so viele weißrussische Rubel erhalten wie im Bahnhofskantor. Kein Wunder also, dass in diesen gedrungenen Kiosken nicht nur Rubel sondern auch Süßigkeiten, Würstchen, Chips und klebrige Limonaden verkauft werden müssen.

Im Zug nach Grodno sitzen junge, polnische Backpacker neben zurückkehrenden russischen Schmugglern, die ihre Ware gerade im Westen losgeworden sind, Tagesausflügler neben polnischen Weißrussen auf Familienbesuch. Sie alle befinden sich auf der Reise durch ein zerrissenes Land. Nach dem Ersten Weltkrieg verlief hier die Demarkationslinie zwischen Sowjetrussland und Polen, die die Ostgrenze des neuen polnischen Staates bilden sollte. Im polnisch-russischen Krieg 1920 eroberten polnische Truppen Gebiete östlich dieser Linie. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlegten die Sowjets ihre Grenze zu Polen zu ihren Gunsten wieder an die alte Demarkationslinie und teilten das neu erworbene Gebiet der Belarussischen Sowjetrepublik zu. Hier hat die Grenze, die das historische Siedlungsgebiet der Weißrussen durchschneidet, nach wie vor Bestand. Da sie gleichzeitig auch die EU-Außengrenze ist, wird sie nicht nur zum Hindernis für die polnischen Weißrussen, die ihre Verwandten auf der anderen Seite der Grenze besuchen wollen. Auch EU-Bürger werden vor dem Hintergrund der derzeitigen antiwestlichen Stimmungsmache des Lukaschenko-Regimes von den weißrussischen Grenzern genau überprüft.

Nachdem der Zug den Bahnhof in Kuznica Bialostocka verlassen hat, kommt er wenige Minuten später an der Staatsgrenze erneut zum Stehen. Hier steigen die weißrussischen Grenzer ein, während bewaffnete Soldaten die Außenwände und die Unterseite des Zuges gründlich inspizieren. Nach der Weiterfahrt macht sich das Grenzertrio mit den überdimensionierten Hüten und den herausgeputzten Uniformen an die Arbeit und kassiert die Reisedokumente der westlichen Ausländer ein. Die Rückgabe erfolgt erst nach Ankunft in Grodno, nach Zollkontrolle und anschließender vierzigminütiger Wartezeit.

Die Region um Grodno blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück. Noch heute trifft man auf verfallene Synagogen und Reste von Moscheen, im Stadtgebiet von Grodno finden sich neben der lutherischen Johanniskirche, die Anfang des 20. Jahrhunderts von einem deutschen Geistlichen gegründet wurde, sieben orthodoxe Kirchen, die von den Weißrussen und Russen besucht werden. Eine ebenso große Anzahl römisch-katholischer Kirchen weist auf die rund 30 000 polnischstämmigen Bewohner Grodnos hin.

Im ganzen Land leben 1,3 Millionen Katholiken. Dass sich nur noch 400 000 von ihnen als Polen bezeichnen, ist Indiz dafür, dass der von den Kommunisten und später vom Regime Lukaschenko ausgeübte Assimilierungsdruck nicht ohne Wirkung blieb. Auf der polnischen Seite der Grenze findet man zwischen dem Bialowieza-Nationalpark und der polnischen Provinzhauptstadt Bialystok viele kleine Dörfer, deren Holzhäuser sich um eine prächtige orthodoxe Dorfkirche gruppieren. In diesen Ortschaften sind teilweise 80 Prozent der Einwohner weißrussischer Abstammung.

Während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 sammelten sich die weißrussischen Partisanenverbände in den Wäldern rund um Grodno, um sich der brutalen Herrschaft der Deutschen zu widersetzen. In der Stadt wurden zwei jüdische Ghettos errichtet, in denen 30 000 Menschen eingesperrt wurden, die dort auf ihre Deportation in die Lager nach Trascjanec, Majdanek oder Treblinka warteten. Die schreckliche Bilanz sah so aus: Jeder vierte Weißrusse hat den Krieg nicht überlebt, darunter fast die gesamte jüdische Bevölkerung.

Schon in den ersten Nachkriegsjahren setzte die von Moskau diktierte Russifizierung der polnischen Minderheit ein. Die Kommunisten begannen sofort mit der Verschleppung sowjetfeindlicher Kräfte. Auch nach der Öffnung der Archive gibt es keine verlässlichen Daten über die Zahl der weißrussischen Opfer während des Stalin-Regimes.

»Den hier lebenden Polen wurden von der Verwaltung einfach russische Namen zugewiesen«, erinnert sich die 71jährige Teresa Holownia. Die pensionierte Ärztin lebt vor den Toren Grodnos in einem gepflegten Bauernhaus und kümmert sich um ihren an Parkinson erkrankten Mann. Den Besuchern erklärt sie, dass er an der »Krankheit des heiligen Vaters« leide. Die stolze Polin ist mit 58 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand geschickt worden, weil sie den Machthabern zu unbequem geworden war. Bereits 1990 gründete sie in ihrer Gemeinde die nach dem polnischen Romancier benannte Kulturgesellschaft »Adam Mickiewicz«. Außerdem steht sie dem örtlichen »Bund der Polen« vor, dessen Zentrale sich in Grodno befindet. Die unermüdliche Aktivistin sammelte während der Hochwasserkatastrophen in Polen 1997 und 2002 jeweils über 1 100 Dollar für ihre Landsleute. Sie selbst erhält eine Rente in Höhe von 100 Dollar. Der monatliche Durchschnittsverdienst in Weißrussland liegt bei 150 Dollar. Immer wieder warnt sie im Gespräch vor der »Rückkehr des Kommunismus«. Ihr glühender Antikommunismus verleitet sie zu der Bemerkung, dass der deutsche Angriffskrieg ohne den sowjetischen Bolschewismus nicht geführt worden wäre und lässt sie die deutschen Soldaten als »elegante und zivilisierte Männer« bezeichnen.

Sie weiß, dass sie unter Beobachtung des Geheimdienstes steht, der sich hier bezeichnenderweise noch immer KGB nennt, lässt sich dadurch aber nicht einschüchtern. Vor einigen Jahren brachte sie mit Gleichgesinnten auf dem örtlichen Friedhof eine Gedenktafel für die von der Roten Armee ermordeten polnischen Soldaten an, die umgehend wieder entfernt wurde. Nachdem sie im Rahmen einer Veranstaltung im letzten Jahr auf einer Bühne öffentlich die Einführung des polnischen Sprachunterrichts gefordert hatte, bekam sie Besuch von zwei Milizionären, die sie verhörten. Trotz der Repressionen, so erzählt sie stolz, habe sie bereits 185 Unterschriften für einen offenen Brief an Präsident Lukaschenko gesammelt, in dem er dazu aufgerufen wird, die Arbeit des »Bundes der Polen« nicht weiter zu behindern.

Im Norden Grodnos begegnet man zwei polnischen Namen, deren Erbe unterschiedlicher nicht sein könnte. Feliks Dzierzynski war der erste Leiter der gefürchteten sowjetischen Geheimpolizei »Tscheka«. Vor dem Haus in der nach ihm benannten Ulica Dzierzynskiego 32 steht eine Büste des polnischen Nationaldichters Mickiewicz. Vom Balkon des gelb verklinkerten Gebäudes weht ein Transparent mit der Aufschrift: »Ich verlasse nicht den Boden, von dem unser Volk stammt.« Darunter ist eine weiß-rote Fahne angebracht. Dies ist der Hauptsitz des »Bundes der Polen in Weißrussland« (ZPB). Mit seinen 25 000 Mitgliedern ist der ZPB die größte Nicht-Regierungsorganisation des Landes – und der Regierung Lukaschenko ein Dorn im Auge.

Im März wählten seine Mitglieder den alten Vorstand unter Tadeusz Kruczkowski ab, der eng mit der weißrussischen Regierung zusammenarbeitete. Neue Vorsitzende wurde die 31jährige Pädagogin Anzelika Borys. Daraufhin erklärte der weißrussische Justizminister die Wahl für ungültig und setzte den alten Vorstand wieder ein. Die Affäre beeinträchtigte die diplomatischen Beziehungen zwischen Polen und Weißrussland erheblich, nachdem auch der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski dem demokratisch gewählten Vorstand seine Unterstützung zugesagt hatte. Lukaschenko bezichtigte die polnische Botschaft öffentlich der »umstürzlerischen Tätigkeit«. Im Mai strahlte das weißrussische Staatsfernsehen einen amateurhaft montierten Propagandafilm aus, der suggerieren sollte, dass der polnische Vizebotschafter einem Vertreter des ZPB Geld überreicht, mit dessen Hilfe die weißrussische Regierung gestürzt werden soll. Daraufhin verwies Lukaschenko den polnischen Vizebotschafter Marek Bucko des Landes. Seit Wochen berichten die großen polnischen Tageszeitungen von diesem Konflikt.

In den Räumlichkeiten des Polenbundes herrscht geschäftiges Treiben. Soeben sind zwei Journalisten von Newsweek Polska eingetroffen. Einer der beiden erzählt, dass sie vor ein paar Wochen einen Oppositionellen in einem weißrussischen Gefängnis besuchten. Als sie das Gespräch mit der Kamera aufnehmen wollten, schritten die Wachleute ein. Die beiden Polen verbrachten mehrere Stunden in Polizeigewahrsam. Sogar CNN berichtete über diesen Vorfall. »Mit Bildmaterial«, fügt der junge Journalist stolz hinzu.

Mit der Pressefreiheit ist es in Weißrussland nicht weit her. Es gibt keinen unabhängigen Fernsehsender, die wenigen nichtstaatlichen Medien sind erheblichen Repressionen ausgesetzt. Immer wieder kommt es zu Einschüchterungen und zur Verhaftung von Journalisten. Derzeit wird in der EU über Pläne beraten, von Litauen, Ostpolen und der Ukraine aus nach Vorbild des »Radio Free Europe« über Kurzwelle ein politisches Informationsradio für die weißrussische Bevölkerung zu senden. Im nächsten Jahr sind Präsidentschaftswahlen, aber noch ist weit und breit kein aussichtsreicher Herausforderer Lukaschenkos in Sicht. Das Regime reagiert zunehmend empfindlich. Erst Ende Mai wurden zwei Oppositionelle zu drei Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil sie im vergangenen Herbst gegen die dritte Kandidatur Lukaschenkos demonstriert hatten.

Auch Andrzej Poczobut hat bereits Gefängniserfahrung. Früher arbeitete er für die unabhängige Zeitung Pahonia, die wegen ihrer kritischen Berichterstattung geschlossen wurde. Jetzt sitzt Poczobut vor seinem Monitor im Redaktionsbüro der polnischsprachigen Wochenzeitung Glos znad Niemna (Die Stimme an der Memel), das sich in einem Dachzimmer desselben Gebäudes befindet, in dem auch der »Bund der Polen« sitzt. Er redigiert die ersten Seiten der neuen Ausgabe. Die letzten beiden Nummern konnten nicht erscheinen, weil die staatliche Druckerei den Druck verweigerte. Ob auch die aktuelle Ausgabe wieder nur im Internet zu lesen sein wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden. Poczobut ist der Meinung, dass die Druck- und Vertriebsprobleme der Wochenzeitung nur der Anfang seien. Es drohe die komplette Schließung des polnischen Hauses.

In der Grodnoer Innenstadt hingegen herrscht ausgelassene Stimmung, denn es ist der letzte Schultag vor den dreimonatigen Sommerferien. Festlich gekleidete Mädchen und Jungen bummeln vorbei an der monumentalen Leninstatue durch die Straßen. Die meisten interessieren sich nicht für die diplomatischen Spannungen zwischen Weißrussland und Polen. Schließlich äußern sich doch zwei sechzehnjährige Freundinnen zu dem Thema. Das polnische Mädchen weiß zu berichten, dass die Beziehungen momentan schwierig seien. Zu Hause werde darüber gesprochen. Ihre weißrussische Begleiterin bemerkt nur achselzuckend, dass es keine Probleme mit den Polen gebe. Auf die Frage, ob sie sich vorstellen könne, einen Polen zu heiraten, schüttelt sie den Kopf. »Einen Polen nicht, eher schon einen Russen. Die verstehen wir besser«, erklärt sie.

Am Rande des großen Platzes, auf dem das blumengeschmückte Denkmal des unbekannten Soldaten steht, ruhen sich drei Straßenkehrerinnen nach getaner Arbeit aus. Im Gespräch stellt sich heraus, dass alle drei unterschiedlicher Herkunft sind. Die blonde Weißrussin ist mit einem katholischen Polen verheiratet. Zu Hause werden nur die katholischen Festtage gefeiert. Das wiederum kann die Polin nicht verstehen, die unter ihrem Sonnenhut etwas verständnislos zu ihrer Kollegin herüberschaut. »Mein Mann und ich begehen sowohl die katholischen als auch die orthodoxen Feiertage«, gesteht sie verschmitzt. Zustimmung erntet sie von der Russin, die keinen Unterschied zwischen dem katholischen und dem orthodoxen Glauben machen will.

Zurück im Grodnoer Bahnhof. Auf den Bänken und auf dem Fußboden der Wartehalle sitzen Schmuggler und kleben ihre Zigarettenstangen mit Papier ab. Jeder von ihnen trägt mindestens zwei große Plastiktaschen gefüllt mit Zigaretten in den Zug, der in zehn Minuten nach Kuznica Bialostocka fahren wird. Noch während der Zug im Bahnhof wartet, fangen sie an, die Zugwände und die Bodenverankerungen der Hartschalensitze aufzuschrauben. Sie ziehen die Styroporfüllung aus den Wänden und füllen den Zwischenraum mit ihrem Schmuggelgut. Ihnen bleibt eine knappe Stunde bis zum Kontrollgang der polnischen Zöllner. Ein Mann entfernt mit geübten Handgriffen während der Zugfahrt eine Bodenplatte des Abteils und schafft es, blindlings mehrere Stangen auf den metallenen Verstrebungen unterhalb des Waggonbodens zu deponieren. Der weißrussische Schaffner lässt sich von all dem nicht beirren und fordert mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen von den beschäftigten Reisenden die Fahrkarten. Man kennt sich.

Nach getaner Arbeit verlassen die »Geschäftsreisenden« die hintere Hälfte des Zuges und setzen sich mit ihrem nun leichten Handgepäck in den vorderen Teil. Die polnischen Zöllner fragen einige Passagiere im Flüsterton, ob sie gesehen haben, wie Schmuggelware versteckt worden ist. Unter den scharfen Blicken der Mitreisenden fällt den Gefragten natürlich nur eine Antwort ein. Trotzdem klopfen die Beamten mürrisch mit ihren Schraubenziehern und Taschenlampen gegen die Wände in dem verwaisten Abteil. Sie haben aber offensichtlich an diesem Tag kein gesteigertes Interesse daran, das Geschäft der Männer und Frauen in Trainingshosen und ausgewaschenen T-Shirts zu durchkreuzen. Schließlich ist es noch immer sehr heiß und auch im Polnischen existiert das Sprichwort: »Eine Hand wäscht die andere.« In ein paar Tagen wird man sich wieder sehen.