Smoke Fiction

»Nicotina« ist ein kleiner, schmutziger Pulpfilm. von andreas thomas

Wie wir unheilbaren Raucher wissen, ist einer der unverzichtbarsten Gegenstände dieser Welt die Zigarette. Aus ihr erwachsen Lebensintensität, chronischer Husten, Krebs und weitere ziemlich unappetitliche Sachen. Dennoch, und daran glauben wir standhaft, wird das Raucherleben mehr Spaß gemacht haben, als eines ohne Nikotin.

Eine typische Raucher-Argumentation benutzt auch der junge Kleinkriminelle Nene aus dem Film »Nicotina«, wenn er seine Sucht vor dem älteren, nichtrauchenden Kollegen Tomson rechtfertigen will: Es kann dich jederzeit erwischen, also solltest du dir gleich eine anstecken!

Warum an jeder Ecke der Tod warten könnte, beantwortet »Nicotina« uns recht bald. Denn die Luft im Film ist weit stärker blei- als nikotinhaltig, und um durch Blei zu sterben, brauchst du nur wenig: Ein paar Deppen im Kleinkriminellenteam oder eine verfahrene Ehesituation – und natürlich ein paar Kanonen. Aber die liegen in der mexikanischen Hauptstadt von »Nicotina« mindestens so benutzerfreundlich herum wie im LA von Tarantinos »Pulp Fiction«, und hier wie da liegt die etablierteste Konfliktlösung im Kleinkaliber.

Was aber könnte zu Konflikten führen? Nun, der milchbärtige Lolo hat zwei spannende Hobbys, die ihn vom Rauchen abhalten: Eines ist das Hacken, aber das aufregendere ist die Observation seiner Nachbarin Andrea. Obwohl sein erster größerer krimineller Karriereschub kurz bevorsteht, ist er so sehr Spanner, dass er es nicht fertig bringt, die CD-Rom mit den gehackten Zugangsdaten der Schweizer Nationalbank zu beschriften, und weil er es nicht tut, man ahnt es schon längst, wird es zu einer folgenschweren Verwechslung kommen.

Der Deal mit der Russenmafia kommt jedenfalls nicht zustande. Selbstverständlich ballert sofort jeder wie wild drauflos – denn offenbar ist alles, was eine zeitgenössische »schwarze Komödie« braucht, Beschränktheit und Bewaffnung. Der dezimierte Ganovenrest schleppt sich, getreu dem Motto »Mit einer Kugel im Bauch gehe ich noch lange nicht nach Hause«, durch die Studiobauten eines gekünstelt wirkenden Mexico-City, das aus jeder seiner Ecken in einem anderen Farbton schimmert. Bunt ist der Film offenbar, weil er visuelle Farbtupfer setzen möchte, wo die Story eher blass bleibt, kurz: Atmosphärisch stelle man sich das Ganze in etwa so vor wie die »Lindenstraße«.

»Nicotina« lehrt uns, dass unbescholtene Frauen – geraten sie in Waffenbesitz – ganz verrückte Sachen tun: Sie sperren ihre notgeilen und unfreundlichen Gatten ein, sie zielen mit Riesenpistolen auf sie, und sie wühlen mit bloßen Händen in den Gedärmen dicker, toter, backenbärtiger Russen herum. Zum Schieflachen.

Eines haben alle Figuren dabei gemeinsam: ihre Belanglosigkeit. Nichts gegen Belanglosigkeit, solange sie Charme besitzt. Nur kann es den peinlichen Spanner Lolo kaum interessanter machen, wenn er uns auch noch als lustiges Identifikationsangebot aufgedrückt wird. Und die sich gegenseitig auf die Nerven fallenden Frauen und Männer in ihren kleinbürgerlichen Ehen, Apotheken und Friseursalons, die nicht einmal den Tiefgang des Hamburger »Ohnsorgtheaters« erreichen, erwecken (selbst bei Kettenrauchern) noch keine Empathie, bloß weil sie dauernd Lungenschmacht haben.

Weil »Nicotina« kein Herz für seine Figuren hat, treten sie ungeliebt auf der Stelle; und wenn ihre Psychologie hinkt – was nicht selten passiert –, wird schnell zurückgeschossen, damit das nicht so auffällt. Das Ergebnis: Mehr als das halbe Personal muss dran glauben. Spaß macht das eigentlich nicht. Die Figuren von »Nicotina« haben wenig Originalität, wenig Genre-Typisches, aber sie erzählen auch wenig über das zeitgenössische Mexiko, anders als das Personal seines offenbaren zweiten Vorbildes »Amores Perros«.

Die Neue Zürcher Zeitung schrieb: »Wenn Quentin Tarantino ›Amores Perros‹ realisiert hätte, wäre möglicherweise ›Nicotina‹ dabei herausgekommen.« Davon abgesehen, dass schon »Amores Perros« stets als die mexikanische Version von »Pulp Fiction« gehandelt wurde, müsste es richtig heißen: Wenn Tarantino »Nicotina« gedreht hätte, dann nur nach einer Elektroschockbehandlung, die sein Hirn von fundamentalen filmhistorischen Kenntnissen und vor allem von seinem bösen Hintersinn gereinigt hätte.

Eines hat »Nicotina« aber doch mit Tarantinos Film gemeinsam: Der Disput über die Vor- und Nachteile des Rauchens ist geklaut. Er ist dramaturgisch genau so aufgebaut wie die berühmte Diskussion in »Pulp Fiction« über das Thema Fußmassage. Nur, was bei Tarantino intelligenter Witz war, ist in »Nicotina« abgekaute Binsenweisheit.

Fassen wir zusammen: »Nicotina« ermüdet, wo »Pulp Fiction« seinerzeit ganze Kinosäle auf den Kopf stellte. »Nicotina« ist bestenfalls Telenovela, dabei ohne Ironie, also Mutter Beimer an Weihnachten mit Bauchschuss und blutiger Kippe im Mund. Der Film versucht, auf den Zug aufzuspringen, von dem schon unzählige andere Filme vorher (»Bube, Dame, König, Gras«, »Lammbock«) runtergepurzelt sind.

Was nun aus unserem Lolo wird? He goes up in smoke, wie es sich für einen anständigen Raucher gehört. Das hätte er netterweise aber auch 80 Minuten eher tun können.

»Nicotina«. Regie: Hugo Rodriguez. Mexiko 2003, 93 Minuten. Start: 14. Juli