Die Fuck-You-Style-Bibel

Vice, das Zentralorgan für Political Uncorrectness und coole Lebensformen, erscheint nun auch in Deutschland. von andreas hartmann

Man zeigt nicht mit Fingern auf dicke oder hässliche Menschen, man schaut auch keine Pornos, in denen Sex mit Tieren zu sehen ist, man schaut am besten überhaupt keine Pornos. Aber warum eigentlich nicht? Na, weil es politisch nicht korrekt ist. Der Dicke kann vielleicht gar nichts für seine Fettröllchen (obwohl man ja nicht dazu gezwungen wird, sich rund um die Uhr bei McDonald’s zu ernähren, oder?), und Sex mit Tieren, das macht man einfach nicht, das sollte man nicht unterstützen. Man wirft auch sein Mars-Papier nicht auf die Straße.

Mit Hilfe von Political Correctness und einer unendlich langen »Geht«- »Geht nicht«-Liste regeln wir unser Zusammenleben, versuchen wir, uns vor allem mittels Sprachregelungen gegen Rassismus, Homophobie, Sexismus und so weiter zu imprägnieren. Das ist schön und das ist gut und manchmal ist es geradezu grotesk. Political Correctness hat schließlich auch zu albernen Dogmen geführt, zu Prüderie und Scheinmoral. »South Park« war jedenfalls in den Neunzigern vor allem deswegen so erfolgreich, weil darin wieder über Dicke gewitzelt und auf Sex mit Tieren angespielt wurde.

Wohin überzogene PC ebenfalls geführt hat, wissen wir: zu Parental-Advisory-Stickern auf HipHop-Platten, Anti-Pornografie-Kampagnen, zensierten Büchern, verbotenen Filmen und albern skandalisierten Ausstellungen. Political Correctness fördert in Bereichen, wo sie wirklich nicht vonnöten ist, Langeweile, Borniertheit, Spießermentalität und Sozpäd-Befindlichkeiten.

Deswegen ist das nun erstmalig in einer deutschen, aber nur teilweise deutschsprachigen Ausgabe erschienene Magazin Vice entschieden gegen Political Correctness und deren Apologeten. Man versteht sich vielmehr als Zentralorgan des hemmungslosen Hedonismus; Greenpeace, Antifa-Spießer und Gutmenschen gehören zum Feindbild. Man befindet sich so in bester anarchistischer Tradition, wie wir sie auch von AK Press in San Francisco und dem herrlich unkorrekten Hate-Magazin Answer Me! kennen. Allerdings ist Vice kein von ein paar Spinnern zusammengehauenes Ego-Zine, sondern ein global agierendes Hipster-Blatt, das zu einem riesigen Medienkonzern gehört und sich um genügend Anzeigenkunden keine Sorgen machen muss.

In Vice heißt der Homosexuelle wieder »Schwuchtel«, und zwar nur deshalb, weil man weiß, dass man eigentlich »Homosexueller« sagen sollte. Man macht sich über Minderheiten jeder Art lustig, lacht sich kringelig über irgendwelche Idioten mit dämlichen Klamotten, und wenn man der migrantischen HipHop-Crew Crackaveli & D-Irie einen Satz entlockt wie: »Fick die Frauen richtig gut, dann kommen sie immer wieder«, dann hat man seinen Job getan.

Vice will provozieren, nicht kuscheln. Die Themen der Nummer Eins in Deutschland sind u.a.: »Hippie-Faschisten, Gaystapo, Eating Pussy, Fuck You DJ«. Auf dem Cover blickt uns ein süßes Kätzchen an, dessen Äuglein in unterschiedlichen Farben leuchten, als gehörte es David Bowie, und dessen Pupillen verrückt spielen, als habe man ihm gerade einen Drogencocktail injiziert, den es nicht überleben wird. Voll krass, Mann! Angesichts des lahmarschigen und gänzlich verödeten deutschen Pop-Lifestyle-Fashion-Magazinmarkts wirkt Vice trotz dieser ein wenig durchschaubaren, Terry Richardson nachahmenden Cool-as-cool-can-Ästhetik so ungewohnt wie, um es im typischen Vice-Sprech zu sagen: ein G-Punkt im Rachen.

Vice will geradezu von den einen gehasst und für verabscheuungswürdig gehalten werden, damit sich die Zielgruppe mit diesem Paria-Image identifizieren kann. Mit diesem Konzept ist das 1994 gegründete Magazin längst erstaunlich erfolgreich. Es ist inzwischen ein weltumspannendes Unternehmen, samt eigener Filmproduktion, Fernsehstation und Plattenlabel. Es erscheint mit lokalen Ausgaben in Japan, Italien, Schweden, Neuseeland, Australien, England und den USA. Dass es ausgerechnet ein Magazin aus Kanada zur führenden Fuck-You-Style-Bibel der Welt gebracht hat, kommt nicht von ungefähr. Nirgendwo lässt es sich schließlich leichter provozieren als in Kanada, wo man im Kindergarten als erstes lernt, wie man Angehörige von Minderheiten hundertprozentig korrekt zu bezeichnen hat.

Vice ist das Magazin, das sämtliche Regeln der Coolness beherrscht wie kein zweites. Coolness hat, das stellten Dick Pountain und David Robbins in ihrem Buch »Cool Rules« fest, zwangsweise etwas mit Dagegen-Sein und dem Flirt mit dem Unkorrekten zu tun. Nur wenn du dich außerhalb des Mainstreams befindest, kannst du cool und vielleicht sogar ein bisschen Outlaw sein, und nur wenn du eben gerade das nicht tust, was allgemein von dir erwartet wird. Deshalb wirkten sogar die serbischen Paramilitärs cool, die man im Kosovokrieg auf Pressefotos gesehen hat. Für die Welt personifizierten sie das Böse schlechthin, sie trugen jedoch Tattoos, Bandannas und Hell’s Angels-T-Shirts, als wären sie Popstars gewesen. Deshalb ist auch Ewan McGregor als Junkie in »Trainspotting« cool und deswegen ist ein Bankangestellter, der auch so aussieht, niemals cool.

Da Coolness nie für immer gilt, sich andauernd verändert und immer neue Formen annimmt, ist Vice permanent auf der Suche. Nach Coolness und nach neuen Möglichkeiten, Coolness zu imaginieren. Dafür wühlt man im Dreck, begibt sich auf die Straße, verklärt den White Trash, Drogenopfer und Asoziale. Wer in der Gosse vor sich hin vegetiert, aber ein Tattoo über den Einstichmalen von der Spritze trägt, ist: cool. Skater auf Poppers: cool. Die Pitbullhalter in ihren Ghetto-Hustler-Looks, die in der aktuellen Ausgabe als Models für eine Fotostrecke posieren dürfen: cool. Diese Ikonografien kennt man zu Genüge von Fotografen wie Larry Clark, Nan Goldin und Wolfgang Tillmanns, man kennt sie aus Rapvideos und den Filmen von Harmony Korine oder Klaus Lemke. Heroin- und Proll-Chic ist schließlich nichts Neues und eigentlich auch längst abgefrühstückt.

Doch letztlich, und das ist das große Geheimnis von Vice, durch das es sich von all den anderen Lifestyle-Guides und dem ehemaligen Coolness-Indikator Face unterscheidet, geht es eben weniger um Glorifizierung als um Abgrenzung. Extremindividualisten werden gerne ausgestellt, am liebsten jedoch durch den Kakao gezogen. Oder der DJ. Er gehört normalerweise automatisch zur Kaste der Coolen, für Vice ist er ein Trottel und Blender, der nichts können muss. Vice macht es sich eigentlich ziemlich einfach, ob der wahre Hipster die Baseballkappe nun lieber richtig oder verkehrtrum tragen sollte, solche Fragen stellt man sich gleich gar nicht mehr. Man zerrt lieber ein williges Opfer des schlechten Geschmacks vor die Kamera und spricht das aus, was unbestritten ist: Hosen mit den aufgedruckten Dreiecken vom »Dark Side of the Moon«-Cover von Pink Floyd gehen auf gar keinen Fall.

Es gibt für Vice keine Liga der Unantastbaren und ewigen Helden, keine Madonna oder Kylie Minogue, die man einfach schon allein deswegen cool zu finden hat, um selbst cool zu wirken. Stars, das weiß man, können einen enttäuschen, morgen schon ewiggestrig wirken, und wer dann jemals an sie geglaubt hat, scheint selbst nicht mehr ganz taufrisch zu sein. Irgendwelche Klebstoffschnüffler mit den richtigen Frisuren dagegen könnten in die Junge Union eintreten, es wird niemals jemand erfahren, dass Vice ihnen einmal eine Fotostrecke gewidmet hatte.

Coolness, auch das erfährt man in »Cool Rules« von Pountain und Robbins, ist weder links noch rechts, existiert unabhängig von Ideologien. Vice hält sich daran, ein gut aussehender Nazi-Skin ist dem Magazin so recht wie ein Linksaktivist, solange er keine Birkenstock-Latschen trägt.

Man tut so, als ordne man die Welt neu, ignoriert sämtliche Regeln und gibt sich völlig unbefangen, wobei dann auch Sätze herausspringen wie: »Achilles hat dauernd Schwänze gelutscht, und fast keiner konnte diesen Wichser endgültig erledigen.« Oder: »Ein blinder 70jähriger äthiopischer Leprakranker mit zehn gebrochenen Fingern kann genauso gut auflegen wie jeder B-Promi bei irgendeiner Instore-Party für irgendeine schwule Snowboardjeansfirma.« Klingt peinlich, aber wenigstens nicht betulich.

Vice ist das beste Popmagazin im deutschsprachigen Raum. Wenn die Band Black Mountain ihre »drei Abführtipps fürs Scheißen auf Tour« zum Besten gibt, bringt das den Popdiskurs zwar auch nicht zwingend voran, es ist aber wenigstens lustig. Außerdem kann ein Magazin so schlecht nicht sein, das die neue Platte der Metzger-Band Orthrelm zum Album des Monats kürt und in dem gleichzeitig wahrhaftige Durchfallpoesie zu lesen ist wie »Tomte klingen wie Max Mutzke auf Sangria und Olli Schulz wie ein in der Sonne geschmolzener Flutschfinger.«