Die große Depression

Die Debatte über die 68er-Bewegung von jörn schulz

Die bürgerlichen Parteien, aber auch der DGB und die Jusos hatten das »freie Berlin« unter dem Motto »Wir wollen sagen, wofür wir sind« zu einer Kundgebung gegen die Bewegung aufgerufen, die später als 68er bezeichnet werden sollte. Wofür die »freien Berliner« waren, zeigten dann am 21. Februar 1968 Transparente mit Aufschriften wie: »Politische Feinde ins KZ!« und »Lasst Bauarbeiter ruhig schaffen, kein Geld für langbehaarte Affen!«

Es schadet nicht, sich in der Debatte über die 68er-Bewegung hin und wieder vor Augen zu führen, dass die BRD damals ein von antikommunistischer Hysterie geprägter christlicher Obrigkeitsstaat war, in dem Homosexualität juristisch verfolgt werden konnte. Die Menschen, die gegen diese Zustände rebellierten, waren keine Heiligen. In der linken Szene tummelten sich damals Sexisten, Rassisten, Militaristen, Antisemiten und allerlei Spinner. Nicht anders als heute. Das aber kann nur Leute überraschen, die in dem festen Glauben leben, Linke seien bessere Menschen.

Die Kritik an der 68er-Bewegung beschränkt sich meist auf ödes Moralisieren oder die Propagierung konservativer Werte. Damit illustriert sie die geistige Stagnation in der »Informationsgesellschaft« und die große Depression, die die kapitalistische Gesellschaft erfasst hat. Was rückblickend vor allem auffällt, ist der überschäumende Optimismus auf beiden Seiten der Barrikaden. Die Propagandisten des Kapitalismus versprachen ewige Gesundheit, Haushaltsroboter und Urlaubsreisen zum Mond. Die Linken waren sich sicher, dass die Revolution nicht mehr fern sei. Heute dagegen jammern schwermütige Kapitalisten, die längst nicht mehr wissen, wo sie ihre Profite investieren sollen, als würden die Bolschewisten an ihre Türen klopfen. Und die meisten Linken glauben, die Tobin-Steuer, die Vollbeschäftigung oder das Existenzgeld genügten, um eine »bessere Welt« zu schaffen.

Es wirkt wie eine Botschaft aus einer anderen Welt, wenn Bommi Baumann in seinem Buch »Wie alles anfing« den Beginn seiner Lehrzeit als Horrortrip beschreibt. »Auf der Fahrt zu dieser Baustelle ist mir plötzlich klar geworden, das machst du jetzt 50 Jahre. Es gibt kein Entkommen.« Baumann wurde ein umherschweifender Haschrebell und später Stadtguerillero, weil er trotz der damals üblichen Lohnsteigerungen von zehn Prozent jährlich das Dasein als Lohnabhängiger unerträglich fand.

Die 68er-Bewegung, die nur deshalb als Angelegenheit der Studenten und Intellektuellen erscheint, weil proletarische Akteure schon »Terroristen« gewesen sein müssen, um Gehör zu finden, führte nicht nur einen Kulturkampf. Zwischen 1969 und 1973 gab es eine Reihe »wilder«, nicht von der Gewerkschaftsbürokratie genehmigter Streiks, und die proletarische Renitenz – Sabotage, kollektives Krankfeiern, Enteignung von Firmeneigentum – hielt sich bis weit in die achtziger Jahre hinein.

Warum lösen die Einschränkung der persönlichen Freiheiten durch den neopuritanischen Kontrollstaat und der Sozialabbau heute nicht wenigstens Ansätze einer Rebellion aus? Begann die Sozialdemokratisierung der Linken schon mit dem Übergang von der antiautoritären Revolte zu einer staatfixierten Leninrezeption? Beeinflusste der in Teilen der 68er-Bewegung verbreitete Antisemitismus die Kapitalismuskritik und den Klassenkampf? Das Bedauerliche an der Debatte über die 68er-Bewegung ist, dass auch die linke Kritik die eigentlich interessanten Fragen konsequent ignoriert.