Geschichte wird gedacht

Versionen von 68 von stefan ripplinger

Geschichtsschreibung ist Lüge. Wüsste ich das nicht von Theodor Lessing, die Geschichte von 1968 hätte es mich gelehrt. Über die Ereignisse dieser Jahre (68 begann, heißt es, 1967) kursieren derart widersprüchliche Versionen, dass noch der Leichtgläubigste Verdacht schöpfen müsste.

Eine der beliebtesten dieser Versionen geht bei den Anhängern der grünen Partei um, die selbst ein Zerfallsprodukt der Bewegung von 68 ist. Den Grünen zufolge war Westdeutschland in den Sechzigern ein kulturell zurückgebliebenes Land. Einige Studenten hätten sich ein Herz gefasst und den Laden umgekrempelt. Das sichtbare Ergebnis sei, dass heute der Fortschrittliche keine Gardinen mehr an die Fenster hänge und selbst ein CDU-Minister einen Brilli im Ohr trage. Diese Spätfolgen von 68 sind kaum zu leugnen. Und doch drängt sich die Frage auf: Deshalb musste der junge Joschka mit Steinen schmeißen?

Die natürlichen Gegner dieser Version finden sich auf der Linken, sie verteilen sich also auf unzählige Fraktionen, die einander jeweils spinnefeind sind. (Ihre Tendenz zur Fraktionierung ist überhaupt das Sympathischste an der Linken.) Die Maoisten, Trotzkisten und Antiimperialisten behaupten, in den Sechzigern habe die Revolution in der Luft gelegen. Zwar nicht unbedingt in Deutschland, aber doch an allen möglichen Brennpunkten der Welt, etwa in Vietnam und Venezuela, und in Paris roch es ja auch schon ganz brenzlig.

Hätten nicht Repression und Verrat den hoffnungsvollen Ansätzen ein Ende bereitet, könnten wir heute schon in einer sozialistischen Erziehungsdiktatur leben. An dieser Version stören etwas die enormen geographischen Distanzen. Wie kommt ein pickliger Jurastudent aus Villingen-Schwenningen dazu, die Brocken hinzuwerfen, nur um sich dem Großen Vorsitzenden aus Peking anzuschließen?

Von solchen Ambitionen und Illusionen völlig frei sind wie eh und je die Leninisten. Schon 1968 waren ihnen die Studenten wurst. Oder soll es sie bekümmern, dass die Kinder der Bourgeois ihre Flausen haben? Sie werden ihnen schon ausgetrieben werden. Eng verwandt mit der leninistischen ist die Version der Bourgeoisie selbst. Von Prof. Schelsky bis Prof. Reemtsma lehrt sie, wenn es dem Esel zu wohl werde, gehe er aufs Eis. Das ist sicherlich von allen Versionen die lustigste. Doch auch sie wirft eine Frage auf: Wie kann es einem wohl ergehen in einem Land, in dem diese Bourgeoisie das Sagen hat und das Proletariat von dieser Partei vertreten wird?

Gibt es also eine wahre Geschichte von 68? Gottlob nicht. Aber es gibt ein probates Werkzeug, all diese Versionen im Nu zu entkräften. Es ist die Dialektik. Sie fragt, wenn einer die Ziele von 68 zu kennen glaubt, nach den Mitteln. Wenn einer den Blick auf die zu Befreienden richtet, lenkt sie ihn auf den Befreier. Bestreitet einer den Studenten die edlen Motive, interessiert sie sich für die Motive, sie ihnen zu bestreiten. 1968 mag wie das Hornberger Schießen ausgegangen sein. Aber das ändert nichts daran, dass einem Hornberg leicht ein wenig zu ruhig vorkommen kann.