Goya für Anfänger

Wie der depressive spanische Maler zum Kulturevent des Sommers wird. von thomas blum

Betrachtet man die bunte Dekorations- und Gebrauchskunst, die derzeit in der Alten Nationalgalerie in Berlin zu sehen ist, und die folkloristischen Ölgemälde, die als Vorlagen dienten, um Tapisserien herzustellen, fällt es schwer zu glauben, all das sei von demselben Künstler gestaltet worden, der auch »das Monströse geschaffen« und die »Schrecken der menschlichen Natur« aufgezeigt habe. »Niemand hat in der Richtung des möglichen Absurden mehr gewagt«, schrieb der Dichter Charles Baudelaire über den Zeichner und Maler Francisco de Goya (1746–1828).

Angestellt wird Goya vom spanischen Hof, um als Handwerker nach streng akademischen Regeln Entwürfe für Wandteppiche und Porträts nach den Vorgaben seiner adligen Auftraggeber zu malen und eine Welt des schönen Scheins zu reproduzieren. Je unabhängiger Goya aber im Lauf der Jahre von seinen Verpflichtungen gegenüber dem Hof und der Aristokratie arbeiten kann, desto mehr soziale Wirklichkeit findet Eingang in seine Bilder. Die Klassenunterschiede oder Unglücksfälle sind Bildmotive, die er anfangs nur in gemilderter, geglätteter Weise und in einem die Realität veredelnden Stil in den Gemälden platziert (»Der verletzte Maurer«, 1786–87).

1792 äußert er in einem Bericht an die Kunstakademie seine Überzeugung, dass die Natur und der Mensch auch in ihrer Hässlichkeit abzubilden seien, »dass es in der Malerei keine festen Regeln gibt und dass die Tyrannei, die alle, als seien sie Sklaven, zwingen will (…) der gleichen Methode zu folgen, ein großes Hindernis für die Jungen« sei.

Die dunklen Seiten des Daseins

Nicht nur ertaubt Goya wenig später, 1793, aufgrund einer schweren Erkrankung und leidet in der Folge unter Depressionen. In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts möchte er auch nicht länger allein Hofmaler, bloßer Auftragskünstler und »Kopist« sein, wie er schreibt: »Die Malerei wählt ebenso wie die Dichtkunst in dem Universum das, was sie für ihre Zwecke am geeignetsten empfindet.« In einem Brief an einen Freund teilt er mit, er wolle, auch zur Bekämpfung seiner Leiden, etwas Eigenes schaffen, jenseits des idealisierenden Klassizismus, zu dem der Hof und der Adel ihn verpflichten wollen. In künftigen Bildern beabsichtige er, schreibt Goya, »Beobachtungen« festzuhalten, »zu denen in der Regel die Auftragswerke keine Gelegenheit bieten«. Er begibt sich in der Folge mit seiner Arbeit zum ersten mal auf die dunkle Seite des Daseins, die er bis ans Ende seines Lebens nicht mehr verlassen wird.

Noch im ersten Jahr seiner Taubheit entstehen einige Gemälde, die in ihrem drastischen Realismus in ihrer Zeit nicht ihresgleichen haben und auch als Allegorien auf die nackte Trostlosigkeit der menschlichen Existenz verstanden werden können.

Das Bild »Gefängnisinneres« (1793) zeigt halbnackte, zerlumpte und angekettete Häftlinge in unnatürlich gekrümmter Haltung, wie sie in einem kalten Lichtschein stehen oder liegen, der ihre Deformation und Gebrochenheit zu erkennen gibt. Ihre Gesichtszüge sind kaum oder gar nicht erkennbar.

Das Gemälde »Hof der Irren« (1793-94) bildet eine ähnlich bizarre Szenerie ab, nur handelt es sich um die Insassen einer Verwahranstalt für Geisteskranke, die von einem Wärter geschlagen werden. So geht das munter weiter mit den Sujets: Kannibalismus, Hexensabbat, Mord, Pestkranke, ein paar Stilleben mit Tierleichen.

Neben den zahlreichen repräsentativen und offiziellen Porträts, die Goya um die Jahrhundertwende als Hofmaler fertigen musste und von denen viele in der Berliner Ausstellung zu sehen sind, entsteht auch ein überwiegend in Braun, Grau und Schwarz koloriertes Pandämonium des Schreckens und der Phantastik, in dem man auf ein paar wesentliche, sich im Spätwerk fortwährend wiederholende Bildmotive stößt: die bedrohliche Schwärze des Bildhintergrunds, die angstvoll aufgerissenen Augen und Münder oder schwarzen Augenhöhlen, die die Gesichter zu Fratzen entstellen, Todesangst, Wahn, Entsetzen, Fledermäuse und Nachtgetier (»Die Beschwörung«, »Flug der Hexen«, 1797/1798).

Maskierte Dummheit

Doch »im Gegensatz zu seinen intellektuellen Freunden, die die Welt der Gespenster einfach negierten, bestand Goyas Aufklärung darin, dass er den Abgrund von Dummheit und Brutalität der religiösen und weltlichen Macht erkannte und aufdeckte, dem diese Gespensterwelt entwuchs«. Den Schrecken findet er nicht nur im Aberglauben, sondern auch in der »fromm-maskierten und verborgenen Wirklichkeit« (Oto Bihalji-Merin). Anerkennung verdiene, so schreibt Goya, vor allem der Künstler, der »den Augen Formen und Handlungen« unterbreite, »die bis heute nur im menschlichen Geist existieren, der verdunkelt und verwirrt ist aus Mangel an Aufklärung«.

In seiner ersten Radierfolge, den »Caprichos« (»Launen«), die mit ihrer Ästhetik des Dunklen und vermeintlich »Hässlichen« als Gesellschaftssatiren ganz im Zeichen der Destruktion einer biederen Romantik stehen und in welchen von verklärenden Abbildungen ganz abgesehen wird, werden die Leidenschaften, die Affekte und die Niedertracht der Menschen dargestellt, die in einer durchökonomisierten Gesellschaft leben: Prostitution, Heuchelei, Betrug, Geiz, Lüge, falsche soziale Rollenmuster, staatliche Willkür und die unrechtmäßigen Standesprivilegien der Adligen, die auf den Zeichnungen nicht ohne Grund bevorzugt mit Eselsköpfen ausgestattet werden, sind die Themen.

Sowohl aber die gesellschaftskritisch-pessimistischen »Caprichos«, deren Verkauf auf Betreiben des Adels und des Klerus untersagt wurde, als auch die über zehn Jahre später entstandenen Radierungen mit dem Titel »Los Desastres de la Guerra« (»Die Schrecken des Krieges«), in denen Goya in ungeschönter Form und extremen Schwarz-Grau-Kontrasten den Krieg abbildet und die in zuvor nicht gesehener Weise rohe Gewalt, Verstümmelungen und Hinrichtungen zeigen, werden in der Berliner Ausstellung, deren Exponate angeblich in jahrelanger Arbeit zusammengetragen worden sind, bedauerlicherweise nicht gezeigt. Obwohl im Ausstellungsprospekt vollmundig von den »Glanzstücken der grafischen Zyklen« die Rede ist, sind lediglich einige Vorzeichnungen zu den beiden genannten Bilderzyklen zu betrachten.

Zwei davon zeigen etwa irrwitzige, alptraumartige Szenen, in denen Hexen kleine Kinder quälen und missbrauchen: die eine benutzt das hilflose Kind als Blasebalg, indem sie es an Händen und Füßen festhält und mit ihm hantiert, um Darmwinde zu erzeugen, eine andere Hexe liest ihr Buch im Schein einer Kerze, die aus dem Anus eines Kindes ragt, das zum Handstand genötigt wird. Daneben erbrechen sich zwei Kleinkinder in einen Napf, wohl infolge diverser Torturen, die sie bereits hinter sich haben.

Abgründiges und Verdrängtes wird erörtert. Wiederkehrende Themen sind die Sexualität, das Irrationale, die Gier und immer wieder die Gewalt.

Teile aus dem zeichnerischen Werk weisen schließlich vollständig in eine düster-surreale Welt, erfüllt mit grotesken, degenerierten Figuren und Nachtgestalten, die allesamt den Eindruck erwecken, sie entstammten dem Arsenal und dem Zeichensystem des Horrors und der Gothic Novel. Einige Zeichnungen nehmen in ihrer monumentalen Düsternis und Schwermut den erst ein Jahrhundert später aufkommenden Expressionismus etwa der Lyrik Georg Heyms vorweg (»Sitzender Gigant«, 1800/1808).

In den nach 1814 entstandenen Radierungen mit dem Titel »Disparates« (»Torheiten«) erblickt man bisweilen nur noch ein gespenstisches, schwarzgraues Chaos aus Menschenleibern, die Gesichtszüge zerlaufen. Einige der Schwarzweißbilder (»Weibliche Torheit«/«Heitere Torheit«, 1815–24) mit ihrem Arrangement aus debil grinsenden Figuren wirken gar wie bittere, schwarze Parodien auf frühe, in idealisierendem Stil ausgeführte Auftragsgemälde (»Der Hampelmann« (1791/92) bzw. «Das Blindekuhspiel« (1788)).

Museum, Wärter, Schlangen, Presse

Unangenehm am Besuch der Kunstausstellung ist allein der fragwürdige Umgang ihrer Organisatoren mit der Öffentlichkeit. Journalisten etwa, die über die Schau berichten wollen, werden nicht nur aufgefordert, sich auf umständliche Weise per E-Mail um einen Einlasstermin zu bewerben. Sie müssen sich darüber hinaus in der Folge einem zeitraubenden und aufwendigen Procedere inklusive Passwort und anderem Schnickschnack unterziehen, um schließlich einen exakt einzuhaltenden Termin zu erhalten.

Wird man schließlich zum verabredeten Zeitpunkt am Eingang vorstellig, wird man genötigt, eine peinliche Befragung durch uniformierte Museumsangestellte über sich ergehen zu lassen, die sich nach der Art von Staatssicherheitsbeamten zu dritt über das ihnen ausgehändigte Dokument beugen und es streng studieren (»Wo steht das, dass Sie um 13 Uhr hier angemeldet sind? Haben Sie noch einen Ausdruck Ihrer Anmeldungsbestätigung dabei?«). Gleichzeitig muss man erleben, dass eine ausländische Journalistin, die sich nur wenige Stunden in der Stadt aufhält, um die Ausstellung zu rezensieren, und die sich höflich erkundigt, ob sie etwas früher hineindarf, mit äußerster Grobheit abgewiesen wird: »Jetzt ist 13 Uhr, nicht 14 Uhr!«

Spanische Schinken

Ganz im Gegensatz zu einem solchen Umgang mit den Medien steht die großspurige Werbung, die von den Machern der Ausstellung betrieben wird. Die von ihnen geführte, klischierte und mit Superlativen befrachtete Rede vom aktuell-zeitlosen Künstler und Seher Goya, dem »Propheten der Moderne« (»Kein Künstler stieß so weit in die surrealen Abgründe der Moderne vor«), vor allem jedoch der hemmungslos prahlerische Ton, an den man sich als Bewohner der deutschen Hauptstadt bereits seit Jahren zu gewöhnen genötigt wird (»die umfassendste Ausstellung (…) die jemals im deutschsprachigen Raum zu sehen war«), legen den Verdacht nahe, dass es den Veranstaltern weit weniger um das Werk Goyas geht als um die großmannssüchtige Inszenierung eines Ereignisses, das von den Boulevardmedien dankbar aufgegriffen wird. Eine Zeitung etwa warb mit der Schlagzeile: »Spanische Schinken«.

Insbesondere der ebenso eminente wie enervierende Reklameaufwand, der derzeit an jeder Bushaltestelle betrieben wird, um noch den letzten Hertha-BSC-Fan als Ausstellungsbesucher anzuwerben, zeugt von der Absicht, die hinter all dem stecken mag. »Goya«, schreibt die Zeit, »ist heute vor allem ein Sommerereignis«, ein »Werbeslogan«.

Wie bereits mit der Moma-Schau, die innerhalb kürzester Zeit mit ähnlich aufwendigem Medienrummel und unappetitlichem, aggressivem Hauptstadtgetöse erfolgreich zum Jahrhundertereignis stilisiert wurde, will man offenbar in Berlin eine Art Großkultursimulation veranstalten, und das in einer Stadt, in der ansonsten für gewöhnlich der geringste Versuch subkultureller Betätigung und jeder noch so winzige Ansatz urbanen Lebens im Keim erstickt werden.

Bereits in der ersten Woche nach der Eröffnung der Goya-Ausstellung bildete sich erfolgreich eine Hunderte von Metern lange Schlange vor dem Eingang, die wiederum nicht nur weitere Heerscharen unbedarfter Touristen und Sonntagsfamilienausflugsfamilien anlockte, sondern überdies dazu führte, dass sich unter den Augen zahlreicher Museumswächter riesige Menschenmengen, allesamt behängt mit so genannten »Audio-Guides«, lauthals plappernd durch die Räume drängten und eine Art Jahrmarktsstimmung aufkommen ließen, die letztlich verhindert, dass sich auch nur ein einziges Bild in Ruhe betrachten lässt. Wer einen Blick auf Goyas Werk werfen möchte, sollte vorher wissen, worauf er sich einzulassen hat.

Goya – Prophet der Moderne. Alte Nationalgalerie Berlin. Bis 3. Oktober. Eintritt 10 Euro. Info unter www.goyainberlin.org