Wer hat Angst vorm alten Mann?

Die Rede von der »überalterten Gesellschaft« dient vor allem dazu, den Sozialabbau voranzutreiben. von regina stötzel

Bis zur Änderung des Asylrechts wurde hierzulande die Angst geschürt, der letzte Deutsche könne von einem Ausländer erschlagen werden. Inzwischen droht »dem letzten Deutschen« ein neues Schicksal. Auf einem Titelbild des Spiegel im vergangenen Jahr war unter der gleichlautenden Schlagzeile ein Knirps in schwarz-rot-goldener Windel zu sehen, der nach Art eines Gewichthebers ein gutes Dutzend rüstiger Rentnerinnen und Rentner zu stemmen hat.

Die Zeitungen widmen der angeblich tickenden »demografischen Zeitbombe« und der »überalterten Gesellschaft« Tag für Tag Artikel, wissenschaftliche Institute, Enquete-Kommissionen und Kongresse beschäftigen sich mit dem demografischen Wandel. »Wege in die demografische Zukunftsfähigkeit« werden händeringend gesucht, und wenn sie gefunden werden, verheißt das nichts Gutes.

Politikerinnen und Politiker aus der Regierung und der Opposition führen die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland und die Globalisierung als Sachzwang an, wenn es darum geht, den Staat von den »Lasten« der Sozialleistungen zu befreien, das Solidarsystem zu demontieren und die Menschen in die »Eigenverantwortung« zu entlassen. Als wäre nicht längst das Rentenniveau gesenkt und Hartz IV eingeführt, nennt etwa Bundespräsident Horst Köhler »die Demografie« weiterhin »eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft«.

Katrin Göring-Eckhardt, die Fraktionsvorsitzende der Grünen, zeigt, wie man mit dem demografischen Wandel Politik macht. Sie stellt Begriffe in Frage (»Wir müssen die Gerechtigkeit neu beschreiben«) und zieht Metaphern heran (»Die Säulen der sozialen Sicherungssysteme sind nicht fit für den sich grundsätzlich vollziehenden Wandel«), um schließlich zu folgern: »Nur eine Kombination aus gesetzlicher Rentenversicherung, privater und betrieblicher Vorsorge kann Beitragsstabilität und eine Altersversorgung gewährleisten, die den Lebensstandard sichert.« Der Regierungsberater Karl Lauterbach ging in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in der vorigen Woche noch einen Schritt weiter und forderte, die private Altersversorgung zur Pflicht zu erheben, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Wolfgang Zöllner (CDU), äußerte sich ähnlich.

Ohne Zweifel haben eine geringere Geburtenrate und eine höhere Lebenserwartung die Gesellschaft enorm verändert und werden das weiterhin tun. Frauen bekommen nach den gängigen Berechnungen heute durchschnittlich 1,4 Kinder und werden 81 Jahre alt, Männer dürfen auf rund 75 Lebensjahre hoffen. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts waren es noch fast fünf Kinder pro Frau, während die Menschen nur knapp über 40 Jahre lang lebten. Das Verhältnis von Personen im erwerbsfähigen Alter zu den über 65jährigen betrug um das Jahr 1900 noch zwölf zu eins, heutzutage etwa vier zu eins.

Bis zum Jahr 2040 sollen es zwei Erwerbstätige sein, die für einen alten Menschen aufkommen müssen. Auch wenn man den Prognosen uneingeschränkt Glauben schenkt, deutet einiges darauf hin, dass sich ein großer Teil der »dramatischen« Veränderung zu einer Zeit vollzogen hat, in der noch nicht darüber gesprochen und das Sozialsystem weiter verbessert wurde. Berechnet man darüber hinaus, wie die Autorinnen und Autoren der Verdi-Broschüre »Mythos Demografie« es tun, die derzeitige Erwerbslosigkeit bei den Zahlen des Statistischen Bundesamtes mit ein, kommt man zu dem Ergebnis, dass bereits heute nur noch 2,7 Erwerbstätige für einen Menschen über 65 Jahre aufkommen.

Hätte jemand den Menschen vor 100 Jahren gesagt, wie sich die Bevölkerung vermehren würde, dann hätte sich die Angst verbreitet, dass man sie nicht ausreichend mit materiellen Gütern versorgen könne. Das ist kein Thema mehr, weil die Produktivität seither in einem damals unvorstellbaren Maß gewachsen ist. Allein seit 1960 verdreifachte sich das Bruttosozialprodukt trotz weniger geleisteter Arbeitsstunden (»Mythos Demografie«). Weil aber die Löhne nicht proportional zur Produktivität erhöht wurden, wurde auch entsprechend weniger in die Rentenkassen eingezahlt. Die leeren Kassen können nunmehr als erstes Anzeichen für den demografischen Supergau gedeutet werden. Die Lohnentwicklung und die strukturell bedingte Massenarbeitslosigkeit aber haben mit einer »Vergreisung« der Republik wenig zu tun.

Der »Sachzwang Demografie« kommt gelegen, etwa bei der Schlussfolgerung, die Lebensarbeitszeit müsse verlängert werden. Bereits vor zwei Jahren stellte die Familienministerin Renate Schmidt (SPD) fest, dass nahezu 60 Prozent der Unternehmen »keine Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über 50« mehr beschäftigten. Weil sich das unter den gegebenen Umständen nicht ändern dürfte, bedeutet die spätere Auszahlung der Rente nichts anderes als eine Kürzung.

Auffällig ist weiterhin, dass Prognosen ausbleiben, die den Parteien nicht ins Programm passen. Angesichts der Szenarien einer um Millionen Menschen geschrumpften Gesamtbevölkerung und nahezu ausbleibenden Nachwuchses könnte ein pfiffiger Statistiker wohl ebenso gut einen drohenden Arbeitskräftemangel errechnen. Zu einem solchen Ergebnis kommt jedoch keine von der Regierung bestellte Kommission, wäre doch damit den »Reformen« von heute, die angeblich Arbeitsplätze schaffen, ihre Aura der »Zukunftsfähigkeit« genommen.

Auch berechnet man nicht so gern, wie sich die Bevölkerungsstruktur bei einer weiterhin niedrigen Geburtenrate nach dem Zeitpunkt entwickeln wird, da auch die robustesten Vertreterinnen und Vertreter der geburtenstarken Jahrgänge abtreten und nicht mehr mit Rente versorgt werden müssen. Dann könnte womöglich der Eindruck schwinden, alles werde immer noch schlimmer.

Die mögliche Einwanderung von Menschen nach Deutschland wird zwar in die Szenarien in unterschiedlichem Ausmaß einbezogen, aber mit dem Hinweis auf die mittlerweile als bewiesen geltende fehlende »Integrationsfähigkeit« der Migrantinnen und Migranten als Lösung ausgeschlossen.

Die Aussage, eine schrumpfende Bevölkerung könne keine florierende Wirtschaft hervorbringen, wird selten schlüssig begründet und noch seltener angezweifelt. Nur wenige »Experten« treten mit kühnen Behauptungen hervor, wie etwa Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hamburger Universität, der die Meinung vertritt, es komme auf die Produktivität an. Wesentlich andere Schlüsse als die übrigen Demografen zieht er dennoch nicht.

Jegliche Pläne der Parteien, auf den demografischen Wandel Einfluss zu nehmen, die offiziell der Familienpolitik zugeordnet sind, präziser aber als Bevölkerungspolitik zu bezeichnen wären, sind ihren wirtschaftspolitischen Zielen untergeordnet. Von einem einkommensabhängigen Erziehungsgeld, wie es die SPD plant, werden vor allem die Besserverdienenden profitieren, und die Abschläge für Eltern bei der Rentenversicherung, welche die CDU/CSU in ihr »Regierungsprogramm« geschrieben hat, bedeuten einen weiteren Schritt zum Ausstieg aus dem Solidarsystem.