Zu konstruktiv

I hate Kreuzberg V

Kreuzberg ist das Paradies auf Erden. Ein Zufluchtsort für alle Entrechteten, Geknechteten und Ausgestoßenen. Diese Leute lieben Kreuzberg. Ist ja klar. Denn hier kommen die selbst stilisierten Außenseiter endlich mal zu Wort. Sie haben zwar nicht wirklich etwas Interessantes zu sagen. Das aber ist egal. Hauptsache, sie hören sich selbst reden.

Wenn Sie mal in einer Wohngemeinschaft gelebt haben oder sich irgendwo konstruktiv einbringen wollten, kennen Sie dieses Elend ja von Anfang bis Ende. Es beginnt mit Ple- und hört mit -num auf.

Am Küchentisch treffen bereits die Einkaufsphilosophien aufeinander: zu Lidl oder zu Kaisers? Milch aus dem Tetrapack oder aus der Biopfandflasche? Wie glücklich sind die auf dem Eierkarton abgebildeten Hühner? Von der WG, der Keimzelle Kreuzberger Konstruktivität, breitet sich dieses Diskursvirus aus, ganze Häuser werden angesteckt. Als ich einst in einem Kreuzberger Altbau wohnte, trafen sich die Eigentümer der Wohnungen – wohlgemerkt keine ehemaligen Hausbesetzer – zu stundenlangen Sitzungen, auf denen sie über den Wasserverbrauch oder die Hofbepflanzung debattierten, während inzwischen die Bausubstanz verschimmelte. Ja, etliche Straßenzüge sind längst infiziert: Bürgerinitiativen im Wrangelkiez kauen dem Bezirksamt Tag für Tag die Ohren ab, weil sie hier eine Einbahnstraße, da einen andersfarbigen Poller und sowieso alles ganz konstruktiv mitgestalten wollen.

Fragen Sie sich deshalb in einem Kreuzberger Restaurant niemals: »Was soll ich denn nur nehmen?« Zumindest nicht laut. Es sei denn, Sie sind scharf auf die Lebensgeschichte des einsam am Nebentisch Sitzenden. Und die mündet garantiert in einer Diskussion über die üblichen sozialen Ungerechtigkeiten, über »die da oben« und ob man nicht etwas dagegen tun müsste. Revolution zum Beispiel? Oder Linkspartei wählen? Kein Thema ist zu langweilig.

Nirgendwo in Kreuzberg ist man vor der Diskussionswut in Sicherheit. Sogar das Ordnungsamt hat sich der ach so subversiven Diskussionskultur längst angepasst. Mit einem Freund, Ahmet, einem findigen Unternehmer und Cafébesitzer, setzte sich die Kiezstreife neulich einen halben Tag lang auseinander. Einziges Thema: ob seine draußen aufgestellten Stühle und Tische das bezirkseigene Straßenpflaster beschädigen könnten. Demnächst sollen sogar die Preise in Kreuzberger Supermärkten und Dönerbuden basisdemokratisch ausdiskutiert werden. Und statt sich an Verkehrszeichen zu orientieren, erschallt künftig an den Kreuzungen im Kiez der laute Ruf: »Plenum!« Wehe, Sie machen da nicht mit! Dann nämlich folgt die Höchststrafe: Man wird Ihnen einen betroffenen Blick zuwerfen. Ihnen in weinerlichem Ton verklickern, »wie verletzend und ignorant« Ihr Verhalten sei. Das mögen Sie noch mit einem Schmunzeln quittieren. Doch dann kommt er, der Satz: »Ich finde, das sollten wir mal ganz offen und konstruktiv klären.«

Die einzigen Grenzen, die dieser Wahnsinn kennt, sind die des Bezirks. Genau deswegen bin ich übrigens aus Kreuzberg weggezogen. Ich verbringe meine Nachmittage jetzt lieber in der Sonne sitzend, trinke ein Glas Cay und genieße meine Ruhe. Ob das der richtige Weg ist, fragen Sie? Müsste man mal drüber diskutieren? Gerne doch! Aber ohne mich.