Sechser im Lotto

Wegen des steigenden Ölpreises brummt die norwegische Ökonomie. Am 12. September entscheiden die Wähler, wer den Wohlstand künftig verwaltet. von bernd parusel, stockholm

Mit Festen und Gedenkveranstaltungen überall im Land feierte Norwegen dieses Jahr seinen 100. Geburtstag als souveräner Staat. Im August 1905 hatte die Bevölkerung in einer Volksabstimmung für eine Loslösung des Landes aus der Union mit Schweden votiert. Obwohl viele Politiker und Militärs in Stockholm Norwegen nicht ziehen lassen wollten, wurde das Land der Fjorde am 27. Oktober formell unabhängig.

Hätte man in Schweden geahnt, dass Norwegen später zu einem der reichsten Länder der Welt aufsteigen würde, wäre die Empörung der Politiker über das Unabhängigkeitsstreben der Nachbarn möglicherweise noch größer gewesen. Der norwegische Staatshaushalt weist heutzutage einen Überschuss aus, auf dem Arbeitsmarkt herrscht nahezu Vollbeschäftigung, und das Wirtschaftswachstum betrug im vergangenen Jahr drei Prozent.

Der Hauptgrund für diese Erfolgsgeschichte ist das Nordseeöl, heute die wichtigste Einnahmequelle des Landes. Seit in den späten sechziger Jahren erstmals gebohrt wurde, machen Ölexporte Norwegen immer reicher. Zwar sind die Vorkommen naturgemäß begrenzt, doch mit einer bewusst maßvollen Ausbeutung sollen sie noch rund 50 Jahre reichen. Und während der zur Zeit rasant steigende Rohölpreis für Volkswirtschaften, die Öl importieren müssen, zu einer Belastung wird, ist er für Norwegen, den drittgrößten Exporteur der Welt, ein Segen. Die Erlöse fließen in einen vom Staat verwalteten Petro-Fonds. Das Geld wird im Ausland anlegt. So sorgt man für die Zeit vor, in der das Öl zu Ende gehen wird.

Nach den letzten Zahlen der norwegischen Zentralbank hatte der Fonds Ende 2004 einen Marktwert von etwa 138 Milliarden Euro. Die Regierung prognostiziert, dass sich dieser Wert bis 2010 auf 312 Milliarden Euro erhöhen wird. Dieser Schätzung liegt jedoch eine ausgesprochen vorsichtige Kalkulation der Ölpreisentwicklung zu Grunde – man rechnet mit 25 Dollar pro Barrel. Zurzeit kostet ein Barrel über 65 Dollar. Bleibt es dabei, wird die Regierung immer wieder über Rekordeinnahmen jubeln können. Die Abgeordneten im Storting, dem Parlament in Oslo, könnten sich wie Lottogewinner über den Geldsegen freuen, denn wenn der Petro-Fonds wächst, kann er auch immer mehr Zinsen erwirtschaften, die dann ins Staatsbudget fließen.

So weit aber, dass sich die Parlamentarier angesichts des Reichtums Wahlkämpfe sparen und den Bürgern alle Wünsche erfüllen, ist es nicht. Am 12. September wählen die Norweger ein neues Parlament, und im laufenden Wettstreit der Parteien spielt das Öl allenfalls eine Nebenrolle. Stattdessen beherrschen die Schul- und Bildungspolitik, die Altenpflege, die gesellschaftliche Verteilung des Wohlstands, Kultur, die außenpolitische Orientierung des Landes und der Umgang mit Einwanderern und Asylsuchenden die Diskussionen.

Die sozialdemokratische Arbeiderpartiet, die die norwegische Politik nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die achtziger Jahre prägte, hofft, mit ihrem Spitzenkandidaten Jens Stoltenberg eine Mehrheit im Parlament zurückzuerobern und das Land mit einer rot-grünen Koalition zu regieren. Stoltenberg war zwischen 2000 und 2001 schon einmal Premierminister. Bei der letzten Wahl 2001 musste er sich jedoch Kjell Magne Bondevik geschlagen geben.

Dessen Christdemokraten erhielten damals zwar kaum mehr als sechs Prozent der Wählerstimmen, als Anführer einer Koalition mit der konservativen Høyre und der liberalen Venstre wurde er jedoch Premierminister einer bürgerlichen Minderheitsregierung, die sich von der rechtspopulistischen Fortschrittspartei (FrP), die damals 16 Prozent erhielt, tolerieren ließ.

Eine Fortsetzung dieser Konstellation nach der bevorstehenden Wahl scheint im Moment indes wenig wahrscheinlich. Die von Carl I. Hagen geführte FrP erklärte im Juni, die Tolerierung nicht fortsetzen zu wollen. Entweder gebe es eine Koalition mit eigenen Ministerposten für die FrP, oder die Partei betreibe nur noch Oppositionsarbeit. Für Bondevik wiederum kommt eine Koalition mit den Rechtspopulisten, die zurzeit mit einwandererfeindlichen Parolen auf Stimmenfang gehen, nicht in Frage, auch wenn ein konservatives Bündnis ohne die FrP nach aktuellen Umfragen auf nicht mehr als 44 Sitze käme. 85 Sitze wären für eine Mehrheit erforderlich. 

Somit ist ein Sieg der parlamentarischen Linken wahrscheinlich. Jens Stoltenbergs Arbeiderpartiet scheint bei vielen Wählern mit dem Versprechen, mehr als etwa eine Milliarde Euro ins Schul- und Bildungssystem zu investieren, Sympathien zu gewinnen. Zudem will er die Altenpflege verbessern und mehr soziale Gleichheit schaffen. »Heute dient die Politik einer privilegierten Minderheit, während die große Mehrheit langfristig verliert«, hält er seinem Widersacher Bondevik während seiner Wahlkampfauftritte entgegen.

Umfragen sehen die Arbeiderpartiet zurzeit bei 27 Prozent. Zusammen mit der Sozialistischen Linkspartei (SV), die auf 18 Prozent kommen könnte, und der kleinen Zentrumspartei könnte sie eine stabile Mehrheit erringen.

Bisher waren es die Sozialdemokraten gewohnt, allein zu regieren, zur Not mit einer Minderheitsregierung. Vor allem außenpolitische Fragen hatten eine Zusammenarbeit mit der SV verhindert, denn während Stoltenbergs Partei einen Beitritt Norwegens zur EU befürwortet, sind die Sozialisten strikt dagegen. Sie betrachten die Union als undemokratisch, unsozial und zu marktliberal. Seit dem Scheitern des Verfassungsprojekts und der unklaren Zukunft der EU ist eine erneute Volksabstimmung über einen norwegischen Beitritt jedoch nicht denkbar und die EU-Frage insofern momentan kein Streitpunkt.

Auch die Nato, in der Norwegen seit 1949 Mitglied ist, die von der SV aber abgelehnt wird, bewegt kaum die Gemüter. Unter vielen Sozialisten herrscht eine so starke Abneigung gegen die Dominanz der USA in der Weltpolitik, dass die Nato fast schon positiv bewertet wird – als Chance, Alleingänge der USA zu begrenzen. Da die heiklen ideologischen Unterschiede derzeit in der politischen Debatte keine Rolle spielen, werden der Arbeiderpartiet, der SV und dem Zentrum in Umfragen zusammen 93 Parlamentssitze vorhergesagt. Die SV, die Norwegen zum umweltfreundlichsten Land der Welt machen will, ist vor allem unter jüngeren Wählern beliebt. Vieles deutet darauf hin, dass Norwegen in den nächsten Jahren von einer rot-grünen Koalition regiert wird, die sich ein wenig mehr um die sozial schlechter gestellten Gruppen der Gesellschaft kümmert und die Politik der außenpolitischen Selbstständigkeit fortsetzt.

Das Öl bringt unterdessen ständig neue Profite. Wenn man von der vorsichtigen Schätzung ausgeht, dass im Petro-Fonds in fünf Jahren tatsächlich 312 Milliarden Euro liegen werden, und das Gedankenexperiment wagt, diese Summe auf die rund 4,6 Millionen Einwohner Norwegens aufzuteilen, hätte jeder Bürger zur Zeit der nächsten Wahl über 67 000 Euro auf der hohen Kante. Rechnet man noch einige Jahre weiter in die Zukunft, so könnte eines Tages nicht mehr nur das wirtschaftliche Überleben des Landes nach einem Ende der Ölförderung gesichert sein. Vielleicht könnte ganz Norwegen in Rente gehen und nur noch von den Zinsen seines Vermögens leben.