Abseits von Istanbul

Die große Kluft zwischen Istanbul und Anatolien spiegelt sich in der Fußballkultur des Landes wider. Doch die Lage ist nicht hoffnungslos. von bagis erten

Die Türkei, das ist zum einen Istanbul, zum anderen Anatolien. Dieser Dualismus spielte nicht nur in der türkischen Geschichte eine wichtige Rolle, auch heute noch sind beide Regionen in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht voneinander getrennt. Istanbul und Anatolien, das bedeutet Unterdrücker gegen Unterdrückte, Konsumenten gegen Produzenten, Anpassungswillige gegen Widerständige. Istanbul ist hochnäsig, modern und europäisch; Anatolien hingegen bescheiden, traditionell und asiatisch. Der Unterschied ist am deutlichsten zu erkennen, wenn man von Istanbul aus auf andere Städte blickt: auf der einen Seite die Städter, hinter dem Bosporus die anderen. »Die Königin aller Städte« wird sie auch genannt, eine Zuschreibung, die Istanbul stolz annimmt. Ein berühmter Poet, Yahya Kemal, antwortete einst auf die Frage, was denn das schönste an Ankara sei: »die Rückkehr nach Istanbul«.

Die populärste Sportart in der Türkei, der Fußball, hat eine unvergleichliche Bedeutung. Er ist nicht nur im kulturellen Leben allgegenwärtig, sondern auch im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben. Die gesellschaftliche Unterscheidung zwischen Istanbul und Anatolien lässt sich auch auf den Fußball übertragen: Die türkische Fußballgeschichte ist auch die Istanbuls.

Jedes abrufbare Wissen über Fußball hängt mit dieser Stadt zusammen; in der seit dem Jahr 1959 bestehenden Profiliga gelang es nur einer einzigen anatolischen Mannschaft, sich in die Liste der Titelträger einzutragen. Doch die drückende Dominanz der Clubs aus Istanbul macht sich nicht nur in der Statistik bemerkbar. Sie zeigt sich vielmehr in der von den Istanbuler Mannschaften geschaffenen Fußballkultur, in ihren finanziellen Möglichkeiten und in ihrer egozentrischen und manipulativen Art. Diese Dominanz zeigt sich beispielsweise darin, dass die zwei größten Tageszeitungen des Landes in ihrem Sportressort jeweils zwei Seiten für die Berichterstattung über Fenerbahçe, Galatasaray und Besiktas bereithalten; unabhängig vom Tagesgeschehen. Die »drei Großen« aus Istanbul sind die wichtigsten Antriebskräfte im türkischen Fußball, sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich und kulturell. Sie haben die größten Stadien, die meisten Zuschauer und die bedeutendsten Erfolge.

Weil die Fußballökonomie seit einigen Jahren so deutliche Klassenunterschiede wie nie zuvor hervorgebracht hat, ist sie derjenigen anderer Länder ähnlicher geworden. Jedes Land hat seine »drei Großen«, überall genießen wenige privilegierte Clubs den Erfolg. Das gilt selbst für Spanien und England, wo eine relative Gleichheit zu existieren scheint. Diese Gegensätze, die Bayern-Fans vielleicht am ehesten nachvollziehen können, weisen auf strukturelle Probleme hin, die in absehbarer Zukunft nicht leicht zu bewältigen sein werden. Aber wie ist es überhaupt so weit gekommen? Und kann die Trennung zwischen Istanbul und Anatolien jemals überwunden werden?

Der wichtigste Schlüssel für einen dauerhaften Erfolg im Fußball liegt in den nationalen, lokalen und kulturellen Eigenheiten. Davon zeugen der Erfolg und die Beständigkeit der Istanbuler Clubs. Sie blicken auf eine 100jährige Geschichte und versprechen immer Erfolg, auch in schwierigen Zeiten. Der Begriff »Erfolg« ist hier ein Schlüsselwort. Denn der Erfolg ist die Hauptmotivation in der türkischen Fankultur, mehr als man den Fußball liebt, liebt man einen bestimmten Club.

Zweifellos besitzt der Erfolg in jedem Land dieser Erde eine unwiderstehliche Anziehungskraft, und niemand möchte Zweiter werden. Doch zeigt sich an lokalen und kulturellen Besonderheiten, dass auch andere Dinge das Herz eines Fußballfans bewegen können. Wie wäre es sonst möglich, den FC St. Pauli zu lieben? Es gibt also Menschen (einschließlich des Autors dieser Zeilen), die eine Sympathie, eine Liebe für solche Clubs empfinden können. Denn Alaves in Spanien oder Chievo in Italien zu mögen, heißt, andere Beweggründe zu haben als den Erfolg.

Das Fehlen dieser anderen Gründe zählt zu den grundlegenden Mängeln des türkischen Fußballs. Abgesehen von der Lust an diesem Spiel ist der Hauptbestandteil der türkischen Fußballkultur, dem Fußball gesellschaftliche und psychologische Bedeutung beizumessen und somit den Erfolg in den Vordergrund zu stellen. Auch als Folge dieser Sicht ist der Widerspruch zwischen Istanbul und Anatolien tiefgreifend und strukturell. Die Istanbuler Clubs erfreuen sich in jeder anatolischen Stadt einer großen Anhängerschaft und fühlen sich selbst in der Fremde selten fremd. Demzufolge hat jeder Fußballfan in der Türkei zwei Lieblingsmannschaften. Im günstigen Fall hält er zuerst zu seinem Heimatclub und dann zu einem der »drei Großen«; der ungünstige Fall ist der umgekehrte und leider auch die Regel.

Natürlich ist es ungerecht, alle Last dem anatolischen Fan aufzubürden, der seinem Heimatclub nicht treu genug beisteht. Solange die »drei Großen« im Stile von Feudalherren über den Sport herrschen, ist es kaum möglich, dass sich eine andere Fußballkultur etabliert. Auch für dieses Verständnis, dem die Schönheit des Fußballspiels als zweitrangig gilt und das alles dem Erfolg unterordnet, sind die drei Herrscher verantwortlich zu machen. Sie führen den türkischen Fußball somit auch in eine Krise. Mt ihrer auf Macht und Erfolg fixierten Art, die den anderen nur eine Nebenrolle beimisst, tun sie sich selbst keinen Gefallen. Das macht ihnen allerdings nicht zu schaffen.

Jedoch gibt es in der türkischen Fußballgeschichte ein Bespiel, das zeigt, dass es auch anders gehen kann: Trabzonspor. Die Stadt Trabzon am Schwarzen Meer konnte bisher den einzigen Fußballmeister aus Anatolien hervorbringen (sechs Meistertitel). Obwohl der Verein Trabzonspor sich seit 20 Jahren nach dem siebten Titel sehnt und mit der ungeduldigen lokalen Öffentlichkeit seine Probleme hat, konnte er ein anatolisches Zentrum des Fußballs schaffen. Die Hegemonie Istanbuls ist also doch zu durchbrechen.

Es mag sein, dass die Kluft zwischen Istanbul und Anatolien immer größer wird und keine Lösung des Problems zu finden ist. Aber vielleicht birgt eben dieser Antagonismus die Lösung in sich: Warum kann aus diesen Widersprüchen keine Fußballrevolution entstehen? Der erste Schritt in diese Richtung kann ein Meistertitel für einen Club außerhalb Istanbuls sein, was wegen der finanziellen und strukturellen Ungleichheit nicht einfach ist. In den vergangenen fünf Spielzeiten haben jedoch Gaziantepspor und Gençlerbirligi, eine Mannschaft aus Ankara, um den Meistertitel mitgespielt, warum sollte es keine Hoffnung geben? Gelingt es nicht, die Hegemonie Istanbuls zu durchbrechen, wird der türkische Fußball nicht aus dem Teufelskreis herauskommen, in dem er sich gegenwärtig befindet, und sich auch nicht weiterentwickeln.

Die Modernisierung der Türkei begann, wie oftmals in der Welt, im Westen. Dasselbe gilt für den Fußball. Doch wie heißt es so schön? Die Sonne geht im Osten auf!

Bagıs Erten ist Kolumnist der linksliberalen Tageszeitung Radikal.