Das Volk als Waffe

Das Pogrom von 1955 von federica matteoni

Noch nie waren die Ereignisse vom 6. und 7. September 1955, als es zu schweren Angriffen gegen die in Istanbul lebende griechische Minderheit kam, so präsent in der türkischen Öffentlichkeit wie in diesem Jahr. Bei der Ausstellungseröffnung zum Gedenken des 50. Jahrestages der antigriechischen Pogromnacht waren viele Journalisten anwesend. Aber nicht nur sie interessierten sich dafür. Das konnte man deutlich an den Polizisten in Kampfmontur erkennen, die kurz nach Eröffnung der Ausstellung das Gebäude absperrten. Vor dem Eingang hatten sich Anhänger der Grauen Wölfe versammelt, die nationalistische Slogans skandierten und die türkische Fahne schwenkten. »Die Türkei den Türken!« lautete die Parole. Einige Faschisten schafften es bis zum zweiten Stock, wo die Ausstellung stattfand, und begannen, Bilder auf die Straße zu werfen. Die Polizei stürmte das Gebäude und nahm sie fest.

Alle Bilder und Dokumente entstammen dem privaten Archiv von Admiral Fahri Çoker, einem der Richter im Prozess zur Aufklärung der Ereignisse. Erst nach seinem Tod 2001 wurde das Material der Türkischen Stiftung für Sozialgeschichte zur Verfügung gestellt. Die erschütternden Bilder dokumentieren, wie innerhalb von wenigen Stunden nationalistische Horden griechische, aber auch armenische und jüdische Häuser und Geschäfte zerstörten, Frauen vergewaltigten, Geistliche zu Tode quälten und Gräber schändeten. Die Angriffe wurden von organisierten Banden durchgeführt, 100 000 Personen beteiligten sich an den Zerstörungen jener verheerenden Nacht.

Die Regierung von Adnan Menderes rechtfertigte die Angriffe zunächst: Sie seien die »Rache« für einen angeblichen Anschlag auf das Geburtshaus Atatürks in Saloniki. Später versuchte man, die türkischen Kommunisten zu beschuldigen. Erst 1960 wurden Menderes und seine Regierung in einem Prozess angeklagt, die Pogrome geplant und angeleitet zu haben. Einige Wochen zuvor hatte der Ministerpräsident energisch den türkischen Anspruch auf Zypern verkündet, das damals noch eine britische Kolonie war. Aber an den Ausschreitungen beteiligten sich auch Rechtsextreme, die Istanbul von den Ungläubigen »säubern« wollten.

»An diesem Tag waren Leute, die man nicht kannte, auf der Straße«, erinnert sich Mihail Vasiliadis, Chefredakteur und Herausgeber der Apoyev Matini, der griechischsprachigen Tageszeitung, die in Istanbul erscheint. Er arbeitete damals in einem Gardinenladen auf der Istiklal Caddesi. Rund um diese Straße befanden sich tausende griechische Geschäfte. Erst kam es zu Beschimpfungen, aber die Situation geriet bald außer Kontrolle.

Über die Bilanz der Pogromnacht herrscht bis heute keine Einigkeit, man spricht von einer Zahl zwischen elf und 30 Toten. Mehr als 200 Frauen wurden vergewaltigt, mehr als 4 000 Häuser und 1 000 Geschäfte wurden verwüstet und geplündert. »Wenn man das Volk als Waffe einsetzt, kann man es nicht mehr kontrollieren«, sagt Vasiliadis.

Das Pogrom löste eine erste Auswanderungswelle der Istanbuler Griechen aus, die damals die größte nichtmuslimische Minderheit in der Stadt darstellten. Eine zweite folgte 1964, als alle Griechen, die in Istanbul geboren waren und dort lebten, jedoch die griechische Staatsangehörigkeit beibehielten, innerhalb von zwei Tagen aus der Türkei ausgewiesen wurden. Heute leben in Istanbul gerade noch 2 000 türkische Bürger griechischer Abstammung. »Auf uns werden keine Waffen mehr gerichtet«, sagt Vasiliadis, »in einer Millionenmetropole sind wir nicht einmal mehr eine Minderheit.«