Die Kriterien der Straße

Jenseits der politischen und wissenschaftlichen Debatten ruft die EU in der türkischen Gesellschaft gleichermaßen nationalistische Reflexe hervor wie hoffnungsvolle Erwartungen. von pinar ögünç

Ahmet Uzunkibrit kam vor 20 Jahren aus dem südostanatolischen Urfa nach Istanbul. Noch länger, schon seit 25 Jahren, verkauft er mit seinem Handkarren Kokoreç, gegrillten Kälberdarm. Kaum, dass die Worte »Europäische Union« gefallen sind, platzt es aus ihm heraus. »Kokoreç ist was Sauberes«, sagt er, »aber vor allem ist es was Schönes. All die Jahre esse und verkaufe ich Kokoreç und habe noch niemanden mit Rinderwahn gesehen. Die Europäer sind nur noch nicht auf den Geschmack gekommen. Sollen sie es doch ruhig verbieten, die türkische Phantasie findet für alles eine Lösung, Schwester, nur keine Sorge.«

Ob auch andere Onkel Ahmets düstere Vorahnungen teilen? Ich wende mich an Emrah, der seit einiger Zeit am Karren steht: »Nehmen wir an, es sei offiziell verboten, Kokoreç zu verkaufen oder zu essen, und man könnte es nur an dunklen Straßenecken bekommen. Würdest du dir illegalen Kokoreç besorgen?« Er beißt schnell in sein Brot mit Kokoreç. »Sie haben wohl noch nie nach fünf Bieren ein Kokoreç gegessen. Dafür geht man jedes Risiko ein!«

Die jüngste Phase der türkischen Beitrittsbemühungen hat heftige Diskussionen entfacht und neue politische Konstellationen geschaffen. Rechte und Linke, Fortschrittliche und Reaktionäre, Religiöse und Säkulare finden sich plötzlich völlig durchmischt in zwei klaren Lagern wieder: bei den Befürwortern oder den Gegnern. Größtenteils sind es die bekannten und uralten Probleme und Themen, die wieder aufgeflammt sind. Daneben hat der Boulevard eigene Themen produziert, die die Menschen auf der Straße mindestens ebenso bewegen wie die großen Fragen: Das hartnäckige Gerücht zum Beispiel, dass Kokoreç und andere Gerichte mit Innereien nach dem Beitritt zur EU nicht mehr erlaubt seien und das Grillen im Freien verboten werde.

Dieses Jahr wurde erstmals eine im Auftrag der EU-Kommission erstellte Meinungsumfrage aus der Türkei veröffentlicht. Eines der interessantesten Ergebnisse lautete, dass 43 Prozent der Türken optimistisch in die Zukunft blicken, ein höherer Wert als bei allen anderen EU-Kandidaten. Jedoch fühlen sich 73 Prozent nicht ausreichend über die EU informiert.

Aber was wollen die Türken am ehesten wissen, wenn es um die EU geht? Als vor einem Jahr ein »EU-Informationszentrum« eröffnet wurde, gingen dort alle möglichen Beschwerden und Anfragen ein. Einer klagte über Stromausfälle, ein anderer über das Rauchen in geschlossenen Räumen. Inzwischen kümmern sich die Mitarbeiter täglich um etwa 30 Fragen. Am häufigsten kommen Studenten, die nach einem Stipendium suchen, Leute, die sich nach Fördergeldern erkundigen, oder Unternehmer mit geschäftlichen Anliegen. Andere haben besondere Fragen: »Wie viel darf ein Lastenträger nach den EU-Normen auf einmal tragen?«, »Gibt es in der EU auch Vaterschaftsurlaub?«

Stellt man auf der Straße irgendeine Frage im Zusammenhang mit der EU, erhält man zweierlei Antworten, die beide Extreme des Nationalbewusstseins widerspiegeln. Einer dieser Diskurse lässt sich mit der Redewendung »Ein Türke ist die Welt wert!« zusammenfassen, der andere mit der fast genauso verbreiteten Formel »Aus diesem Volk wird niemals etwas werden.« Wobei es durchaus vorkommen kann, dass dieselbe Person an einem Tag beide Überzeugungen äußert. Das eine Extrem resultiert aus einem Nationalismus, der glaubt, von Feinden umzingelt zu sein, was im Zusammenhang mit der EU zu paranoiden Reflexen führt. Das andere entstammt einem Gefühl der Rückständigkeit – beides Erfahrungen aus der Zerfallsphase des Osmanischen Reichs, die sich tief im Nationalbewusstsein verankert haben.

Diese Unbestimmtheit geht so weit, dass alte Damen, die nichts über die EU wissen und auch gar keine Erwartungen hegen, plötzlich rufen: »Mit dieser Gesinnung kommen wir niemals in die EU!«, wenn jemand achtlos Schokoladenpapier auf die Straße wirft, ein Autofahrer abrupt die Fahrspur wechselt, eine Hausfrau ihren Teppich aus dem Fenster ausschüttelt oder der Nachbar in der Nacht zu viel Lärm macht. »Wie sollen wir mit diesem Kopf jemals in die EU kommen?« ist zu einer populären Redensart geworden, die bei allen möglichen Gelegenheiten bemüht wird.

Der 40jährige Fischer Hasan Yazıcı glaubt, dass die EU danach trachtet, die Türkei zu vernichten, ist aber zuversichtlich, dass die EU, noch bevor es zu einem Beitritt kommt, zusammengebrochen sein wird. »Es gibt Eltern, die untereinander völlig zerstritten sind, ihren Kindern aber eine heile Welt vorspielen. Genauso geht es jetzt denen. Fünf Jahre gebe ich ihnen bis zum Untergang, ansonsten brechen sie spätestens zusammen, wenn wir dazukommen.«

Solange sie sich nicht an geparkten Autos auf dem Gehweg stören, werden die Türken keine Europäer werden, meint Yılmaz Bayraktar, der im vergangenen Jahr nach 35 Jahren in Stuttgart 60jährig nach Izmir zurückkehrte. Für Bora Arabacı, der an der Universität Kocaeli Internationale Beziehungen studiert, bedeutet die EU vor allem ein Ende der Warteschlangen vor den Visa-Abteilungen; er glaubt aber, dass dies noch mindestens 20 Jahre dauern wird. Die Hausfrau Sibel Güngör ist für einen EU-Beitritt, weil sie hormonfreie, aber billige Tomaten will.

Ismail Kars arbeitet für umgerechnet etwa 180 Euro als Hausmeister in einem Mietshaus im Istanbuler Stadtteil Besiktas. »Europa kann mir gestohlen bleiben«, sagt er schroff. Die 33jährige Kellnerin Banu Yılmazoglu glaubt, dass die Türken der EU gut tun werden: »Die Europäer nehmen dieses kurze Leben viel zu ernst, sie sollten etwas lockerer werden, wie wir zum Beispiel.« Der Agraringenieur Sabri Kaplancık beschuldigt die EU, den Beitritt der Türkei absichtlich zu verzögern, und versichert zugleich, dass die türkischen Großstädte den EU-Standards gewachsen seien. »Die EU ist eine gute Sache, wir sollten da auch rein«, sagt der 19jährige Irfan, der Lose für die staatliche Lotterie verkauft und aus dem südostanatolischen Antep stammt, etwas unsicher. Im Zweifelsfall würde es ihm aber mehr bedeuten, wenn Galatasaray türkischer Fußballmeister wird, als dass die Türkei in die EU aufgenommen wird.

Die harten politischen Fragen spielen auf der Straße kaum eine Rolle. »Man kann nirgendwo auf der Welt von den Menschen auf der Straße erwarten, dass sie intellektuell sind«, meint hierzu Emre Gönen, der Direktor des Bereichs Europastudien an der Bilgi-Universität in Istanbul, und erklärt: »Die Identitätskrise der türkischen Menschen, die in den siebziger Jahren angefangen hat, wird sich intensivieren. Einerseits wird ein faschistoider Nationalismus zunehmen, weil man der EU eine Macht unterstellt, die sie gar nicht hat. Andererseits blickt man erwartungsvoll in Richtung Westen.«

Das tut der Taxifahrer Sinan Uyurdur ebenfalls: »Auch ich würde gern in geordneten, menschlicheren Umständen leben. Zumindest meinen Kindern wünsche ich das. Aber wir sollten uns deswegen nicht unterdrücken lassen. Sie sollen uns so akzeptieren, wie wir sind.« A la Turka eben.

Pınar Ögünç ist Redakteurin der Monatszeitung Express.