Die Quellen der Autonomie

Die Türkei fürchtet die Anziehungskraft eines prosperierenden Nordirak und will einen Machtzuwachs der dort regierenden kurdischen Parteien verhindern. von jörn schulz

Ihre Stimme wird gehört«, verspricht das Telekommunikationsunternehmen Asiacell, das nach eigenen Angaben 800 000 Kunden im Irak hat. Tatsächlich kann man aus dem nordirakischen Suleymania, dem Sitz des Unternehmens, fast alle Handybesitzer der Welt erreichen. Im nur etwa 150 Kilometer entfernten Arbil allerdings will man von Asiacell nichts hören. Dort regiert die KDP, die eine Lizenz an die konkurrierende Firma Korek vergeben hat. Suleymania dagegen ist das Hauptquartier der Puk, der zweiten großen kurdischen Partei. Kunden von Korek und Asiacell können nicht miteinander telefonieren.

Auf nationaler Ebene arbeiten KDP und Puk gut zusammen. In der nordirakischen Autonomieregion hingegen sind sie Rivalen. Noch immer gibt es zwei Verwaltungen, die Parteien konkurrieren um die Gunst ausländischer Investoren und wollen ihre Verwaltungshauptstädte zu prosperierenden Metropolen ausbauen.

Der überwiegend kurdische Norden ist die einzige Region des Irak, in der ein wirtschaftlicher Aufschwung zu verzeichnen ist. »Suleymania wird in einigen Jahren eine der am höchsten entwickelten Städte des Nahen Ostens sein«, glaubt Faruk Mustafa Rasool, der Gründer und Hauptanteilseigner von Asiacell. In den vergangenen zwei Jahren wurden hier nach Angaben der Puk-Verwaltung zwei Milliarden Dollar investiert.

Diese Entwicklung erfreut nicht jeden. Es ist zwar keineswegs sicher, dass der Nordirak wie bisher vom Terror weitgehend verschont bleiben wird. Ein Boom im Bau- und Dienstleistungssektor garantiert auch noch kein dauerhaftes Wirtschaftswachstum in einer Region, in der es kaum Industrie gibt und nur wenige Arbeiter mehr als umgerechnet 100 Dollar verdienen. Dennoch fürchten nicht nur arabisch-sunnitische Terrorgruppen und schiitische Reaktionäre im Irak, sondern auch die Nachbarstaaten die potenzielle Anziehungskraft eines demokratischen und prosperierenden Nordirak.

Besorgt sind insbesondere die Regierungen von Staaten wie der Türkei, in denen ebenfalls eine kurdische Minderheit lebt. »Die Beziehungen haben sich verschlechtert, weil die kurdische Wirtschaft sehr gut floriert, und das stört das türkische Establishment sehr«, sagte Dogu Ergil, ein Soziologe an der Universität von Ankara, bereits im Februar 2003. Die Türkei hatte den USA damals nicht gestattet, Truppen über ihr Territorium in den Irak zu transportieren. Diese Entscheidung führte zu einer dauerhaften Krise in der »strategischen Partnerschaft« zwischen den beiden Staaten.

Die Türkei betrachtet den Irak, insbesondere den Norden, weiterhin als ein Gebiet, dessen politische Entwicklung ihren Interessen nicht zuwiderlaufen darf. Und schon vor Kriegsbeginn war klar, dass der Irak künftig ein föderaler Staat werden sollte und die kurdischen Parteien großen Einfluss haben würden. Offiziell begründeten türkische Politiker und Offiziere ihre Bedenken gegen den Irak-Krieg mit der Befürchtung, die kurdischen Parteien könnten einen unabhängigen Staat ausrufen. Die Zusagen der USA, dass die territoriale Integrität des Irak erhalten werde, hielt man nicht für ausreichend. »Ich sehe keine Garantie dafür, dass sie einen kurdischen Staat nicht anerkennen werden«, sagte Emin Serin, der Vizevorsitzende des außenpolitischen Komitees des türkischen Parlaments, kurz vor Kriegsbeginn.

KDP und Puk streben einen Autonomiestatus in einem föderalen Staat an, und bei allem gebotenen Misstrauen gegenüber den Versprechen bürgerlicher Politiker gibt es keinen Grund, ihnen separatistische Ziele zu unterstellen. Die kurdischen Parteien wollen die relative politische Stabilität und die ökonomischen Erfolge im Nordirak sichern, die Ausrufung eines unabhängigen Staates aber würde die Konflikte im Irak weiter verschärfen und alle Regierungen des Nahen Ostens gegen sie aufbringen. Auch die US-amerikanischen Regierung würde alles tun, um eine solche Eskalation zu verhindern.

In der Debatte über den Föderalismus im Irak geht es nicht zuletzt um die Verteilung der Ressourcen und einen Ausgleich für die jahrzehntelange Privilegierung des arabisch-sunnitischen Zentrums. Für die zentralistisch regierte Türkei ist diese Problematik ein brisantes Thema. Die Fortschritte bei der Demokratisierung und die kulturellen Zugeständnisse ändern nichts an der ökonomischen Marginalisierung der kurdischen Provinzen, die noch immer die ärmsten des Landes sind. Sollte der Unternehmer Rasool recht behalten, wäre das nordirakische Modell attraktiv für die schätzungsweise 70 Prozent der türkischen Kurden in Diyarbarkır, die arbeitslos sind.

Die offiziell von der Türkei vorgebrachten Sorgen betreffen vor allem die Präsenz von 3 000 bis 5 000 Guerilleros der PKK im Nordirak. Teils um die relative Stabilität in dieser Region nicht zu gefährden, aber wohl auch, um der Türkei zu verstehen zu geben, dass man größeres Entgegenkommen in der Nahost-Politik erwartet, werden sie von den US-amerikanischen Truppen geduldet. »Es stimmt nachdenklich, dass bislang nichts gegen diese Organisation unternommen wurde«, kritisierte der türkische Generalstabschef Hilmi Özkök im April die Politik der USA.

Seit Juni verhandeln Politiker und Offiziere beider Staaten intensiv über eine Annäherung in der Nahost-Politik. Doch bei keinem der Streitpunkte gab es bislang eine Einigung. Weiterhin bemüht sich die türkische Regierung um bessere Beziehungen zu Syrien und dem Iran. In beiden Staaten kam es in den vergangenen Monaten zu kurdischen Rebellionen, sie teilen das türkische Interesse, einen Machtzuwachs der kurdischen Parteien im Irak zu verhindern. Die größte Gefahr sehen sie in der von KDP und Puk geforderten Einbeziehung der ölreichen Region um Kirkuk in das kurdische Autonomiegebiet. Özkök dagegen wünscht einen »besonderen Status« für dieses Gebiet.

Der Entwurf für die neue irakische Verfassung lässt die Frage offen, wie die Öleinnahmen verteilt werden sollen, und über den Status Kirkuks soll bis 2007 entschieden werden. Wenn die kurdischen Parteien ihre Forderungen durchsetzen können, würde der Nordirak über eine ergiebige Kapitalquelle für die Entwicklungspolitik verfügen. Diese Quelle würde allerdings vornehmlich für die Parteifürsten und ihre Klientel sprudeln. »Der Erfolg unserer Region hängt von der Ehrlichkeit und dem Verhalten der beiden Verwaltungen ab«, sagt Rasool.

Kurdische Nationalisten zeichneten in der Vergangenheit gerne Karten eines Staates, der sich über weite Gebiete der Türkei, Syriens, des Iran und des Irak erstrecken sollte. Doch die nationale Einheit war schon immer ein Mythos. Kurdische Organisationen agierten entsprechend den Gegebenheiten in den jeweiligen Nationalstaaten, und nicht selten führten politische Differenzen zu gewaltsamen Konflikten. Die bewaffneten Fraktionskämpfe scheinen beendet zu sein, und separatistische Forderungen spielen derzeit kaum noch eine Rolle. Es geht um Demokratisierung, Föderalismus und die Umverteilung der Ressourcen. Doch auch mit solchen Forderungen stellen kurdische Organisationen die Machtverhältnisse in der Region in Frage, und selbst die relativ demokratische Türkei scheint zu den notwendigen Reformen nicht bereit zu sein.