Hertha oder Schalke?

Die allerletzten Tage von Rot-Grün, beobachtet von rainer trampert

Etwa 30 Prozent der Wahlberechtigten dürften am 18. September aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Wahl gehen. Viele unter ihnen werden bereits von »Schalke« oder »Hertha« regiert. Wozu also noch weitere Regierungen? Wer an die mythischen Mächte »Globalisierung«, »Vaterland« und »Wall Street« glaubt, bleibt ebenfalls zu Hause, weil Schicksale nicht wählbar sind. Die dritte Gruppe ahnt jedoch, dass sie nicht der Souverän ist. Sie hat ein Wahlrecht, aber keine Demokratie. Die Menschen werden werktags im Mittel um 7.48 Uhr geweckt und begeben sich dann auf den Weg in die Diktatur, ob Betriebsregime oder Ein-Euro-Arbeitszwang. Wer zu Hause bleibt, muss damit rechnen, dass seine Wohnung nach fremden Zahnbürsten durchwühlt wird. Daran wird keine Partei etwas ändern, auch nicht die Linkspartei. Ihr Wahlkampfleiter Bodo Ramelow favorisierte im Fernsehen »den amerikanischen Gemeinschaftsdienst«.

Dieser rationale Kern bleibt den meisten Wählern verschlossen. Das macht sie unberechenbar. »Es ist paradox. Die rot-grüne Regierung wird für Reformen bestraft, für deren angekündigte Verschärfung die Union belohnt wird.« (Die Zeit). So wird es kommen. Union und FDP werden den Staatsbankrott ausrufen und die Umverteilung von Werten aus dem »Sozialen« in den Profitsektor forcieren. Dem begegnet der »herrschende Geist«, der nach Theodor W. Adorno jedem anderen Leitstern als dem des kleineren Übels von je misstraut, mit eben diesem.

Das kleinere Übel funktioniert wie die Theorie des relativen Hemdes: Der Junggeselle in früheren Zeiten, dem das Wäschewaschen ein Gräuel war, sortierte seine Hemden nach dem Grad ihrer Verschmutzung und zog vor dem Ausgehen das am wenigsten verschmutzte an. So trug er stets ein dreckiges Hemd, aber nie das dreckigste. Bald vermochte nur sein geübter Blick noch den Unterschied zu erkennen.

Das historische Phänomen abgestufter Übel soll nicht geleugnet werden. Kommunisten- und Anarchistenmörder wie Gustav Noske (SPD) und Josef Stalin waren nicht so übel wie Adolf Hitler, aber hätte man für sie votieren sollen? Von solchen historischen Extremen unterscheidet sich der heutige Parlamentsbetrieb erheblich. Die Assimilation der Parteien ist so weit fortgeschritten, dass die Konturen verwischen. Der als großes Übel gestartete Helmut Kohl wäre beim Sozialtransfer heute das kleinere Übel, selbst im Vergleich zu den Forderungen der Linkspartei, während das rot-grüne Bündnis vom kleinen zum großen Übel avancierte. Das allergrößte Übel ist der rot-rote Senat in Berlin. Gleichgültig, wer regiert, der »Sozialstaat« wird beseitigt, wenn er die Kapitalbildung spürbar belastet und wenn er den Herrschaftsverhältnissen nicht mehr abgerungen wird. Verbesserungen sind der Preis, den der Staat zahlt, um Abtrünnige ans System zu binden. Die meisten Verbesserungen gab es unter Konrad Adenauer, weil er sowohl die Bewegungen gegen die Wiederbewaffnung und den Atomtod als auch die vom Nationalsozialismus überzeugte Mehrheit zu befrieden hatte.

Realpolitisch bietet die SPD sich als kleineres Übel an. Die Union wird regieren, also lautet die Frage, ob mit der marktdarwinistischen FDP oder mit der SPD unter der Führung Peer Steinbrücks, die manches für die eigene Regeneration blockieren muss. Damit würde man aber Rot-Grün für die Rückkehr der deutschen Kriegsfähigkeit und die Privatisierung der Lebensrisiken im Kapitalismus belohnen. Also bleibt die Linkspartei, die deutsche Antwort auf deutschen Unmut. Nachdem die SPD und die Grünen ihre Integrationskraft eingebüßt haben, fällt der Linkspartei die Verantwortung zu, Verbitterte an das System zu binden. Sie ist die einzige Kraft, die das zugleich am linken wie am rechten Rand vermag. Um diese Wirkung zu erzielen, bevorzugt sie das »eigene Volk«, dessen Kultur sie von artfremden Erscheinungen bedroht wähnt. Die rechten Zugeständnisse der Linkspartei gehen bis zu Internierungslagern für Afrikaner, wodurch autoritären Charakteren die Weihe von oben verliehen wird. Links geht’s nur bis zur Staatsnachfrage, die dem nationalen Kapital auf die Beine helfen soll.

Bei Oskar Lafontaine, dem staatsgeprüften Kanzlerkandidaten, hat das eine lange Tradition. Als sein Herz noch »links« schlug, definierte er »Deutschland und Frankreich« als »linken Flügel« im Kampf gegen »die angelsächsische Dominanzkultur«. Er wollte, dass der europäische »dem angelsächsischen Kapitalismus überlegen« sei. Für die zu erringende »Machtposition auf dem Weltmarkt« müsse man den Menschen »so etwas wie Gemeinsinn einimpfen«. Lafontaine war und ist ein glühender Verfechter der deutschen »Leitkultur« und des kerneuropäischen Imperialismus.

Die Linkspartei ist bereit, die volle Verantwortung für die nationale Stabilität zu übernehmen, und die Medien honorieren das mit der Dauerpräsenz ihrer »Helden«. Ihr ordnungsstaatliches Manifest, die Fortsetzung der »Traditionen der deutschen Sozialdemokratie«, an denen Gerhard Schröder sich vergangen habe, segnet die nationalen Disziplinierungen der Regierung Helmut Schmidt. Das Markante an ihrem Programm ist der präventive Entzug von Wünschen, damit Betroffene gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen. Man spricht sich für den Ein-Euro-Arbeitszwang aus, der mit dem Arbeitslosengeld II lediglich zu einem Lohn zusammengefasst werden soll. Inzwischen hat ihre Bedeutung als Ordnungskraft das Ärgernis, dass sie die sozialstaatliche Regulierung wieder ins Gespräch brachte, noch übertroffen. Im Übrigen werden die Aussagen immer dürftiger. Man beruft sich auf Lohnsteigerungen in Großbritannien und begreift nicht, dass dem Neoliberalismus das Wort geredet wird. Denn den bejubelten Zuwächsen ging die Halbierung der Löhne im »Thatcherismus« voraus.

Angesichts der Symbiose von Ressentiments und sozialem Nichts spiegelt sich im links-autonomen Zuspruch für die Linkspartei nur der Schwund des kritischen Bewusstseins wider. Die einen scheinen die Versöhnung mit dem System zu suchen, bei den anderen setzen Stimmungen die Ratio außer Kraft. Man ist für die Linkspartei, weil es ungerecht zugeht, weil man mal Masse sein möchte und weil mal etwas los sein soll. Unangenehm ist der missionarische Eifer, der wieder andere zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens dazu drängt, es ihnen gleichzutun. Wer nicht wähle, helfe den Rechten, heißt es. Abgesehen davon, dass über Ideologie und Macht der Nazis nicht per Stimmzettel verfügt wird, gibt es kein Kreuz, mit dem Rechtsextreme verboten werden könnten. Wer wählt, hat sich zu einer Partei zu bekennen. Den um Autonomie bemühten Menschen, die zu dem Ergebnis kommen, dass bei allen die Nachteile überwiegen, sollte man nicht versuchen einzutrichtern, dennoch für etwas zu votieren. Das wäre schamlos.

Nichts führt daran vorbei: Es sind »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«; die Massen »müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen« (Karl Marx). Daran festzuhalten, ist unendlich wichtiger, als die Diskriminierung dieser Idee zu wählen, auch um sich die Option für Verbesserungen im System offen zu halten.