Prozac und der böse Blick

Es gibt nicht einfach »den Türken« oder »die Türkin«. Hierzulande unterscheidet man zwischen »weißen« und »schwarzen« Türken und Türkinnen. von hatice meryem

Weiße Depression. Hat ein weißer Türke eine Depression, sucht er umgehend einen Psychologen oder einen Psychiater auf. Er macht Yoga. Er lernt reiten. Er nimmt Prozac oder andere Antidepressiva. Er isst Bananen und Schokolade. Er besucht einen Englischintensivkurs. Er rennt in große Einkaufszentren, macht ausgedehnte Shoppingtouren. Gemeinsam mit einem Freund mit »positiver Ausstrahlung« bricht er zu einer Europareise auf. Er beginnt zu fotografieren. Wenn es gar nicht anders geht, dreht er einen Kurzfilm.

Schwarze Depression. Ein schwarzer Türke hat keine Depressionen. Er wird vom bösen Blick getroffen. Er lässt die bösen Geister austreiben. Er lässt Blei gießen. Er klopft auf Holz. Er schließt sich in die Küche ein, rollt Weinblätter, backt Börek. Schwarze Türken gehen zu ihren Freunden in die Teestube, schwarze Türkinnen zu ihren Nachbarinnen, um ihr Herz auszuschütten.

Weiße Hochzeit. Der weiße Türke legt seinen Hochzeitstag unbedingt auf einen strahlenden Frühlingstag. Das Fest gestaltet er nach Art einer schlichten Hochzeit auf dem Land. Von den Parvenüs unterscheidet ihn, dass er kein Luxusrestaurant am Bosporus oder den Festsaal eines großen Hotels bevorzugt. Der weiße Türke ist feinfühlig. Er versteht es zu genießen. Er ist modern. Er mag keinen Prunk. Anders als bei den traditionellen Hochzeitsfeiern bindet er der Braut keine rote Schleife um, die ihre Unbeflecktheit symbolisieren soll.

Die Einladung zur Feier lässt er von einem Grafiker kreieren. Tänzerinnen gibt es in der Regel nicht. Niemals spielt bei einer weißtürkischen Hochzeit das traditionelle Duo aus Trommel und Oboe auf, universalistische Musik kitzelt die Ohren. Bei den weißen Türken ist es immer die Braut, die dem Bräutigam auf die Füße tritt, worauf die Hochzeitsgesellschaft wohlwollend Beifall spendet. Sie halten dies für den Ausdruck einer modernen Lebensweise.

Ob die Braut als Jungfrau die Brautgemächer betritt oder nicht, spielt keine Rolle. Da Jungfräulichkeit auch Unerfahrenheit bedeutet, ist sie sogar ein wenig peinlich. Das Fest, das immer glänzender wird, je später der Abend, endet schließlich mit dem Gefühl, dass Braut und Bräutigam nicht miteinander schlafen werden, sobald sie alleine sind, sondern anfangen, wie unschuldige Kinder Frau und Mann zu spielen.

Schwarze Hochzeit. Der schwarze Türke legt seinen Hochzeitstag unbedingt auf einen verregneten Tag, an dem der Boden voll aufgeweichten Schlamms ist. Als die Braut und der Bräutigam vom Hochzeitswagen in den Saal laufen müssen, sehen beide aus wie Ratten, die gerade aus einem Kanalrohr herausgekrochen sind. Das Fiasko der Braut, das schon begann, als sie sich den ganzen Nachmittag lang von sämtlichen Bediensteten eines Friseursalons in den Haaren herumfuchteln und sich die Karikatur einer Frisur machen ließ, findet in diesem Regen seine Vollendung.

Für die Hochzeiten schwarzer Türken am besten geeignet ist der Istanbuler Stadtteil Çaglayan. Wer das notwendige Geld auf den Tisch legt, kann dort an geräumigeren Orten den Halay tanzen; die anderen müssen mit stickigen Kellergewölben vorlieb nehmen, wo Hochzeitstorten aus ranzigem Fett und so genannte Limonade gereicht werden.

Ohnehin dreht sich bei jeder Hochzeit von schwarzen Türken bald alles darum, alte Bekannte und entfernte Verwandte zu treffen. Unendlich lange zieht sich die Zeremonie, bei der Gäste dem Ehepaar Geld und Goldschmuck überreichen und jeder Beitrag samt Spender über schlecht eingestellte Mikrofone einzeln ausgerufen wird. Am Ende sind Braut und Bräutigam so erschöpft, dass sie willenlos auf ihren Stühlen zusammensacken und mit glasigen Augen ihr eigenes Fest bestarren.

Es ist immer der Bräutigam, der der Braut auf die Füße tritt. Für die schwarzen Türken ist dies ein Ausdruck von Männlichkeit. Während er ihr auf die Füße trampelt, scheint der Bräutigam zu drohen: »Wenn wir heute feststellen, dass du kein ›Mädchen‹ mehr bist, werde ich dich mit 37 Messerstichen abschlachten!« Das Fest, das immer finsterer wird, je weiter der Abend fortschreitet, endet mit der düsteren Vorahnung, dass man diese Ehe auf den Zeitungsseiten für Vermischtes wiederfinden wird, wo die Leserschaft über Ehedramen auf dem Laufenden gehalten wird.

Weiße Kinder. Weiße Kinder werden per Kaiserschnitt in Krankenhäusern auf die Welt gebracht (es sei denn, die Mutter besteht auf einer »natürlichen Geburt«). Sie wachsen ohne Schauergeschichten auf, können aber dafür Märchen wie das von Schneewittchen und den sieben Zwergen auswendig aufsagen. Jede Woche schmökern sie in Kinderzeitschriften; noch lieber als die Zeitschriften selbst sind ihnen aber die beigelegten Gimmicks.

In den Sommermonaten werden sie in Ferienlager geschickt, wo sie ihre Englischkenntnisse verbessern sollen. Sie gehen zum Basketball, zum Volleyball oder zum Schwimmen ins Schwimmbad. Manche bringen es sogar bis zum Klavierunterricht. Ihre Idole heißen »Barbie« und »Action Man«. Viele von ihnen sind hyperaktiv, schon im Kindesalter werden sie deshalb zu Psychologen geschleift.

Das Thema, mit dem sich weiße Eltern am schwersten tun, ist die Religion. »Eines Tages setzte sich ein kluger Mann namens Mohammed hin und schrieb den Koran«, versuchen manche die Sache abzukürzen, andere überlassen das Thema den Großmüttern und Großvätern. Diese Kinder, die die Pubertät erreichen, ohne zu erfahren, was die Begriffe Fahne, Denkmal, Gedenkfeier, Nationalhymne, Ausnahmezustand, Staat, Nation, Verbot, Zensur, Märtyrer, Roter Halbmond und Supermarkt bedeuten, erreichen bei der Zulassungsprüfung zur Universität eine mittelmäßige Punktzahl. Im Leben ihrer Eltern, die sie mit tausend Entbehrungen aufgezogen haben, werden sie zur größten Enttäuschung.

Schwarze Kinder. Die Kinder der schwarzen Türken haben schlechte Aussichten, überhaupt das Pubertätsalter zu erreichen. Aus den nichtigsten Gründen sterben sie dahin. Als Säuglinge werden sie wie Mumien eingewickelt. Mit der Furcht vor Hexen und bösen Geistern werden sie groß. Schwimmen lernen sie in gefährlichen Bewässerungskanälen oder in der Strömung des Bosporus. Sehr zum Verdruss der Istanbuler aus der Mittelschicht, die von den städtischen Fähren aus ihr Treiben im Wasser missbilligen, werden sie zu meisterhaften Schwimmern.

Ihr sehnlichster Traum ist es, das Bodybuilding-Studio in ihrem Stadtviertel besuchen zu können. Wegen der Ahnung um ihre kriminellen Neigungen verwehren ihnen aber ihre Eltern diesen Wunsch und schicken sie stattdessen zu Korankursen und auf religiöse Schulen. Auf den Straßen versuchen sie, Hochzeitswagen den Weg zu versperren und so Geld vom Brautpaar zu ergattern. Noch in jungen Jahren stürzen sie sich ins Berufsleben. Sie putzen Autoscheiben, verkaufen im Sommer kaltes Wasser und im Winter Papiertaschentücher. Dabei sind sie erfolgreich. Die Gefängnisse sind ebenso voll mit ihnen wie die Reihen der Sicherheitskräfte und des Militärs. Sie sind es auch, die das Leben der weißen Türken bewachen und beschützen.

Hatice Meryem ist Redakteurin der satirischen Kulturzeitschrift Hayvan.