Stimmen im Off

SPD und Grüne haben viele Sympathien unter den stimmberechtigten Deutschtürken eingebüßt. Aber die CDU tut alles, um von ihnen nicht gewählt zu werden. von deniz yücel

Wir verbrachten einen ruhigen Sonntagnachmittag auf dem Balkon meiner Eltern, als mein Vater plötzlich daran erinnerte, dass sie noch wählen gehen müssten. »Muss das sein?« stöhnte meine Mutter, die lieber sitzen geblieben wäre. »In diesem Land sind alle paar Wochen irgendwelche Wahlen, können wir nicht mal eine auslassen?« Mein Vater blieb stur. »Jahrelang durften wir nicht wählen, jetzt müssen wir von unserem Recht Gebrauch machen«, sagte er entschlossen. Nicht, dass er sich viel davon versprochen hätte – er genoss es, dass die DKP ihr örtliches Wahlergebnis um 20, 30 Prozent hatte steigern können, seit er die deutsche Staatsbürgerschaft besaß. Allein ums Prinzip ging es ihm.

Als meine Eltern nach einer erstaunlich langen Weile zurückkehrten, erzählten sie, dass sie im Wahllokal lauter alte Bekannte getroffen hätten. »Das war fast wie früher beim ›Tag des ausländischen Mitbürgers‹«, sagte meine Mutter, »lauter Ausländer und dazwischen eine Hand voll Deutsche, die etwas mit der Organisation tun hatten.« Es ging übrigens um die Direktwahl eines Landrats, an der sich insgesamt nur wenig mehr als 30 Prozent aller Stimmberechtigten beteiligten.

Dass die rund 600 000 Deutschtürken, die seit Anfang der neunziger Jahre eingebürgert wurden, bislang häufiger wählen gingen als der Durchschnitt der Bevölkerung, bestätigen auch Umfragen, wobei die Wahlbeteiligung bei der ersten Einwanderergeneration besonders hoch war. Bereits jetzt sind sie zu einem ernst zu nehmenden Faktor geworden.

Wer rettete Gerhard Schröder beim letzten Mal den Kopf? Die Elbeflut vielleicht, der Krieg im Irak sicher auch, den letzten Ausschlag aber gab etwas anderes. Wer nicht von selbst darauf kam, konnte es der größten fremdsprachigen Tageszeitung Deutschlands, der Hürriyet, entnehmen: »Türken entscheiden die Wahl!« titelte sie und erinnerte daran, dass die rot-grüne Koalition nur mit wenigen tausend Stimmen Vorsprung gewonnen und außerdem der PDS im Berliner Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain das notwendige dritte Direktmandat weggeschnappt hatte.

Es dauerte ein paar Wochen, bis auch ein deutsches Blatt auf den Trichter kam. Die »Präferenz der türkischstämmigen Deutschen für Rot-Grün«, klagte die »Zeitung für Deutschland« im November 2002, habe zu »weitreichenden Verzerrungen des Wahlergebnisses geführt«. Wenn sich die Gastgeber gerade über eine neue Wohnzimmereinrichtung streiten, soll sich der Gast gefälligst zurückhalten, dürfte man in der Frankfurter Redaktion gedacht haben, verzichtete aber, vielleicht aus verfassungsrechtlichen Bedenken, auf die Formulierung »Gastwähler«.

In einem aber hatte die FAZ natürlich recht: Für die Unionsparteien war bei den Deutschtürken lange nichts zu holen; gleichwohl konnten sie in den Umfragen des Zentrums für Türkeistudien seit 1994 immerhin die Fünfprozentmarke überwinden und lagen im August gemeinsam mit der FDP bei rund zehn Prozent. Eher werde »einem Moslem die Hand abfaulen, als dass er bei der Christlich-Demokratischen Union sein Kreuz auf den Wahlzettel macht«, meinte vor zwei Jahren ein sächsischer Islamkenner aus den hinteren Reihen der CDU-Bundestagsfraktion. Anderswo wäre eine solche Knallcharge wegen parteischädigenden Verhaltens vor die Tür gesetzt worden. Doch während sein Kollege Martin Hohmann, der etwa zur selben Zeit für etwas aus der Bundestagsfraktion entfernt wurde, das er gar nicht gesagt hatte, darf Henry Nitzsche erneut für die CDU kandidieren. Um die Gunst der stimmberechtigten Deutschtürken hat die CDU nie gebuhlt, während sie mit Kampagnen gegen sie die besten Erfahrungen gesammelt hat – man denke nur an Roland Koch und seine famose Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft im Jahr 1999.

Kein Wunder, dass Sozialdemokraten und Grüne die Stimmen der Deutschtürken bislang so gut wie sicher hatten. Mochten diese privat bürgerliche, religiöse oder kommunistische Anschauungen hegen, als Kanaken wussten sie, wer ihnen etwas wohler gesonnen war. Sicherheitshalber empfahl auch schon einmal ein türkischer Ministerpräsident – ein ehemaliger Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Mesut Yılmaz –, auf keinen Fall die CDU zu wählen.

Dabei bestätigen Soziologen immer wieder, dass die meisten Deutschtürken so erzkonservativ sind, dass sie in der Nibelungenhalle bei der Verkündung der familienpolitischen Leitlinien der CSU ihre – möglicherweise mit Alkoholfreiem gefüllten – Gläser heben könnten. Doch dazu müssten die deutschen Christdemokraten die Angst vor den »Fremden« überwinden und aufhören, die Einwanderungspolitik als Unterabteilung der Inneren Sicherheit zu behandeln (worin sie sich nur in Nuancen von anderen unterscheidet).

Interessant ist ein Blick in die USA, wo die Hispanics inzwischen die größte Minderheit bilden und mit ähnlichen sozialen Problemen zu kämpfen haben wie die Deutschtürken. Gehörten die Hispanics einst zur festen Klientel der Demokratischen Partei, gingen beim letzten Mal rund 40 Prozent ihrer Stimmen an den Republikaner George W. Bush. In den USA ist es normal, dass Politiker bei Auftritten in Kalifornien oder Florida ein paar Brocken Spanisch reden. Ein deutscher Bundeskanzler, der in Köln-Mülheim seine Zuhörer mit einem »Merhaba« begrüßt, müsste wohl befürchten, des Hochverrats angeklagt zu werden. Allein, er kommt nicht mal auf die Idee, derlei zu tun.

Dabei ist die Verteilung der Sympathien längst nicht mehr so eindeutig. Vor allem der Umstand, dass dank einer rot-grünen Gesetzesänderung rund 50 000 eingebürgerte Türken die deutsche Staatsbürgerschaft wieder verloren haben, hat nicht nur persönlich Betroffene verprellt. Sehr viele haben das Gefühl, betrogen worden zu sein. Rechnet man den allgemeinen Verdruss über die Bundesregierung hinzu, müsste die CDU auch bei den Deutschtürken abräumen.

Genau darum bemüht sich der bayerische Innenminister Günther Beckstein, wohl mehr als jeder Unionspolitiker. Seinen Wahlkampfauftritt in einem türkischen Restaurant im Kreuzberg vor einigen Wochen wollte zwar nur ein kleiner Haufen türkischer CDU-Mitglieder sehen (die Zahl der Türken unter den linken Demonstranten auf der Straße dürfte noch niedriger gewesen sein). Mit diesen türkischen CDU-Mitgliedern aber, darunter auffällig viele Gewerbetreibende, verstand er sich prächtig, abgesehen davon, dass er die eine oder andere Forderung nach mehr Law and Order freundlich zurückweisen musste.

Türkischen CDU-Anhängern wiederum, deren kleinbürgerliche Lebensverhältnisse so weit vom Leben eines »Mehmet« entfernt sind, dass sie keine Probleme mit einer rigiden Abschiebepolitik haben, missfällt wiederum die Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei. Jüngst erklärte Taciddin Yatkın, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Berlin, dass er bei den Mitgliedsvereinen seines Dachverbandes »angedeutet« habe, nicht für die Union zu stimmen, solange sie den EU-Beitritt der Türkei ablehne. Er gehört selbst der CDU an. Eine Partei aber, die sich nicht einmal der Stimmen ihrer zahlenden Mitglieder gewiss sein kann, hat ein Problem.

Deutschtürkische Kandidaten gibt es diesmal übrigens mehr als je zuvor. Dagegen ist nichts einzuwenden, im Gegenteil, in einer repräsentativen Demokratie könnten es ruhig noch ein paar mehr sein. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, wenn viele Deutschtürken jemanden mit Wohlwollen betrachten, weil sie ihn als »einen der ihren« sehen; als einen, der es allen Widrigkeiten zum Trotz »nach oben geschafft« hat (was längst nicht heißen muss, dass sie ihn deswegen auch gleich wählen). Allerdings ist die Kanakenrolle nicht unproblematisch. Sie könne ruhig auf einen »hinteren Platz« auf der Landesliste gesetzt werden, musste sich Evrim Baba. die Berliner Kandidatin der Linkspartei, kürzlich sagen lassen. Oben auf der Liste gebe es ja bereits einen Migranten.