Waschsalons für Kurdistan

Seit der Aufhebung des Ausnahmezustands hat sich die Lage in der Region um Diyarbakır entspannt. Doch die Probleme der Bevölkerung bleiben ungelöst. von sabine küper-büsch, diyarbakir

Die beiden Männer an der Bushaltestelle im Altstadtviertel von Diyarbakır sind Anfang 20 und sehen sich auffallend ähnlich. Beide tragen Jeans, bunte Poloshirts und modische Sportschuhe, billige Imitationen amerikanischer Marken. Doch nicht nur die Kleidung, auch die Gesichtszüge und Frisuren der jungen Männer, selbst ihre Gesten und Stimmlagen ähneln sich. Fırat und Nadir Bingöl sind Cousins und zugleich die besten Freunde. Man sieht, dass sie viel Zeit miteinander verbringen. Ihre Bewegungen und Reaktionen sind eingespielt, mechanisch fängt Fırat die Reisetasche auf, die er Nadir schnell weiterreicht, bevor der Fahrer des Minibusses Fırat die nächste Tasche vom Dach des Fahrzeugs zuwirft. Beide sind froh, schließlich von dem Gewirr der Ankommenden und Abfahrenden auf dem Busbahnhof wegzukommen.

Diyarbakır ist der wirtschaftliche, kulturelle und institutionelle Knotenpunkt der Region. Nur in wenigen nächtlichen Stunden ist der viel zu kleine Platz nicht mit Reisenden aus den umliegenden Städten und Dörfern überfüllt.

Wir haben uns mit den Cousins in Diyarbakır verabredet. Beide haben einen halben Tag in Sammeltaxen und Bussen zugebracht, um die 250 Kilometer aus den Bergen von Bingöl in die südostanatolische Provinzhauptstadt zurückzulegen. Wenn türkische oder europäische Politiker über Diyarbakır sprechen, erscheint der Name der Stadt wie ein Synonym für Rückständigkeit und Starrheit in allen politisch relevanten Bereichen. Fırat und Nadir sehen das völlig anders. Sie wünschten sich bereits bei unserem ersten Treffen im Juli, einmal gemeinsam Diyarbakır zu besuchen. Nadir arbeitet als Korrespondent der Agentur Tigris-Nachrichten (DHA) im abgelegenen Karlıova in den Bergen von Bingöl. Fırat bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung an der Universität vor und hält seine Familie mit bescheidener Viehwirtschaft über Wasser. Wir trafen uns zufällig beim Sonnenfestival. Wegen der zahlreichen Seen, denen die Region ihren Namen Bingöl (»Tausend Seen«) verdankt, schimmern im Juli die Berge bei unbewölktem Himmel während des Sonnenaufgangs rot. Mit glänzenden Augen schilderten die beiden uns das Naturereignis, das wir leider versäumten. Zwar ersuchten die Veranstalter des Sonnenfestivals die paramilitärische Jandarma nach einer Erlaubnis für einen nächtlichen Besuch ausländischer Journalisten auf der Bergspitze. Doch die Jandarma lehnte das rigoros ab und verkündete: »Auf jeden, der nachts in den Bergen herumschleicht, wird das Feuer eröffnet.«

Obwohl in den gesamten südostanatolischen Gebieten bereits seit drei Jahren der Ausnahmezustand nicht mehr gilt, sieht es in Bingöl anders aus als in Diyarbakır. In den Bergen herrscht ein rauerer Ton. Die Sicherheitskräfte sind während des Sommers in Alarmbereitschaft versetzt worden, da die kurdische Kongra-Gel, die Nachfolgeorganisation der PKK, im Frühjahr eine erhöhte Bereitschaft zum Angriff gezeigt hatte. Als es in türkischen Ferienorten zu Sprengstoffanschlägen kam, gab es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und der Kongra-Gel. Wie viele Todesopfer das erneute Aufflackern des bewaffneten Kampfes gefordert hat, weiß niemand so genau. Seriöse Zahlen werden nicht veröffentlicht. Bereits im Mai 2004 hatte die kurdische Guerilla den einseitigen Waffenstillstand aufgekündigt.

Wir machen uns auf den Weg zur Zentrale von DHA. In der Altstadt, die von einer Stadtmauer umgeben ist, deren Ursprung auf das vierte Jahrhundert zurückgeht, ist es im Sommer bereits morgens um zehn Uhr glühend heiß. Der Basalt der schwarzgrauen Mauer speichert die Hitze und gibt sie wieder ab wie ein Heizstein in einem türkischen Bad. Die Neustadt Ofis erreicht man durch einen der historischen Torbögen der Stadtmauer. Ein Taxi bremst scharf, als ein Pferdekarren voller riesiger Wassermelonen vor ihm durch den Torbogen saust, für beide nebeneinander ist kein Platz. Fırat und Nadir Bingöl schwitzen in ihren schweren Stoffhosen unter der Last der Reisetaschen. Taxi zu fahren, ist in Diyarbakır unüblich. Die Fahrpreise sind hier dreimal so hoch wie in Istanbul, Fahrten mit dem Bus und dem Sammeltaxi hingegen sind viel billiger als in der Metropole. Der Taxifahrer schimpft erbittert über den ansonsten durchaus beliebten Oberbürgermeister Osman Baydemir von der prokurdischen Demokratischen Volkspartei (Dehap). Die Stadtverwaltung erhöhe die Anforderungen für den Erwerb einer Taxilizenz immer weiter, während sie Minibusse fördere, die selbst weite Strecken zu Spottpreisen zurücklegen. Wir bezahlen zehn Euro für ein paar Minuten Fahrt; das ist für die meisten Menschen in Diyarbakır tatsächlich ein unerschwinglicher Preis.

Die Büroetage der DHA liegt in einer ruhigen Straße des modernen Viertels Ofis. Hier ist es bedeutend kühler als in der Altstadt. Der großzügig geschnittene Flur ist blitzblank poliert, was auf eine kurdische Hausmeisterfamilie schließen lässt. Hatice, deren Mann für das Büro sowohl als Fahrer als auch als Hausmeister tätig ist, öffnet die Tür und bittet uns in ein geräumiges Vorzimmer. Die Büroräume der Nachrichtenagentur sind in den Zimmern einer großen Wohnung eingerichtet. Im Zentrum befindet sich die Küche. Dort bereitet Hatice für die Büroangestellten Essen und Getränke. Zudem ist sie für den Empfang der Gäste zuständig. Das Büro soll billig sein und von der Außenwelt gleichsam abgeschottet funktionieren. Die Wohnung liegt im vierten Stock, so dass zwischen dem Klingeln und der Ankunft der Besucher einige Minuten vergehen.

Viele der lokalen Medien und NGO-Büros wählen diese harmlose Form der kleinen Kontrolle und verzichten auf ein Haus der offenen Tür, damit die Transparenz nicht von den falschen Leuten genutzt wird. Neben den früher üblichen Razzien der Sicherheitskräfte fürchteten die Bewohner von Diyarbakır in den neunziger Jahren vor allem die Attentäter der Hizbollah und der Kontraguerilla, einem Konglomerat verdeckt agierender paramilitärischer Einheiten. Der Beginn einer ganzen Serie von Morden an Journalisten und Intellektuellen war das Attentat auf Halit Güngen, den Diyarbakır-Korrespondenten der Zeitschrift 2000’e dogru. Er wurde 1992 mit einem gezielten Kopfschuss in seinem Büro getötet, nachdem er einen Artikel über die Ausbildung von Kämpfern der Hizbollah in Camps der Sicherheitskräfte veröffentlicht hatte. Diese Zeiten gehören jedoch endgültig der Vergangenheit an. Ein Bild von Güngen hängt an einem exponierten Platz in der Büroetage der Nachrichtenagentur.

Trotz des beschaulichen Wohnzimmerambientes herrscht in der südostanatolischen Zentrale der DHA ein geschäftiges Durcheinander. Im Fernsehen werden die Nachrichten des kurdischen Senders Roj TV verlesen, der aus Dänemark sendet. Man sieht eine Großdemonstration anlässlich der Beerdigung eines Mitglieds der Kongra-Gel, das von den Sicherheitskräften bei Kampfhandlungen in der Nähe von Batman erschossen wurde. Anschlie-ßend wird Cemil Bayık, einer der führenden Kommandanten der Guerilla aus dem Nordirak, telefonisch zugeschaltet. Er erklärt, dass die Kongra-Gel sich an den seit dem 1. September geltenden einmonatigen und einseitigen Waffenstillstand halten werde. Aus einem Nebenraum hört man abgehackte Stimmen aus dem Polizeifunk, und einige Redakteure umklammern verkrampft ihre Telefonhörer. Sie müssen die Verbindungen zwischen den Korrespondenten in den kurdischen Provinzen und der Zentrale in Istanbul herstellen, die die Nachrichten sammelt und weiterleitet.

Die Agentur existiert seit April 2002 und hat Korrespondentenbüros in allen großen türkischen Städten, der journalistische Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Südosten des Landes. Stolz präsentiert Nadir Bingöl der Büroleiterin Elif Sonzamancı eine Reportage über Nurettin Hoca. Der junge Imam aus einem Dorf zwischen Bingöl und Karlıova hat gegen den Widerstand der Älteren ein Fußballteam gegründet, mit dem er versucht, der männlichen Dorfjugend während des Sommers ein paar freie Stunden neben der Feldarbeit zu verschaffen. Die blasse, abgehetzt wirkende Frau, die etwa 35 Jahre alt ist, lächelt etwas gequält, nimmt die Diskette aber in Empfang. Die Reportage wird zwar nicht sofort, aber doch eine Woche später erscheinen. Wegen der unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den linken, der PKK nahe stehenden und den islamistischen Medien der Hizbollah hätte es früher keine Geschichten über Imame in einem prokurdischen Medium gegeben. Aber die Demokratisierungsbestrebungen der vergangenen Zeit haben zu einer Ausdifferenzierung der politischen Meinungen auch innerhalb der kurdischen Bewegung geführt.

Gebannt liest eine der Redakteurinnen auf den Seiten des Internetdiskussionsforums Nasname, das von kurdischen Webmastern aus Deutschland und Schweden initiiert wurde. Dort debattieren zumeist kurdische und türkische Teilnehmer aus unterschiedlichen politischen Spektren über die Kurdenfrage. Nadir und Fırat Bingöl notieren sich fast schüchtern, aber sehr interessiert den ihnen bislang noch unbekannten Link. Beiden ist es jedoch sehr recht, das Büro langsam zu verlassen, um der Hektik zu entgehen.

Fırat holt tief Luft und geht zielsicher die gut ausgebaute Straße entlang weiter in Richtung des Zentrums von Ofis. Er ist wie sein Cousin Nadir 22 Jahre alt. Seit dem Tod des Vaters vor ein paar Jahren muss er sich allerdings um die Mutter und drei jüngere Schwestern kümmern. Deshalb musste er die Teilnahme an der Universitätsaufnahmeprüfung immer wieder verschieben. Sein Gesicht hellt sich auf, als wir die Sanatkar Sokak (»Straße des Kunstreichtums«) an der Neuen Moschee erreichen. Der kleine Boulevard neben der in modernem Stil gebauten Moschee ist voller Menschen, überwiegend im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Hier ist der sehr beliebte Studententreffpunkt von Diyarbakır, wie wir später erfahren. Die Cousins schlendern frohgemut durch die Menge, vorbei an Büchern, die auf Feldbetten gestapelt sind, Eisständen, Losverkäufern und unzähligen zerlumpten Kindern, die Päckchen mit Papiertaschentüchern verkaufen wollen. Zwei große Teegärten säumen die Moschee.

Wir lassen uns auf winzigen, in Istanbul nur in Kaffeehäusern gebräuchlichen Schemeln nieder und bekommen sofort Gläser mit Tee vor die Nase gestellt. In Windeseile umringt uns eine Gruppe Studenten, die sich neben uns setzen und sich unterhalten wollen. Der Teegarten ist voller Stimmengewirr. In den neunziger Jahren hatte der Krieg zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen PKK die Teegartenkultur fast vollständig verschwinden lassen, über eine Dekade lang war Diyarbakır eine graue Stadt mit Menschen voller Angst.

In den Gesprächen geht es, anders als an vergleichbaren Orten in Istanbul, fast ausschließlich um politische Themen und die Probleme der Region. Die Debatten drehen sich darum, wie eine umfassende Demokratisierung vonstatten gehen könnte und wie sich die kurdischen Provinzen entwickeln. Es gibt nur wenige Fortschritte, doch die meisten diskutieren engagiert und sind beschwingt, trotz der vielen Schwierigkeiten, in denen die Politik in der Kurdenfrage immer wieder stecken bleibt. Beeindruckend ist die Meinungsvielfalt, die bis vor kurzem nicht wahrnehmbar war.

Alle reden über die Ermordung des ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Demokratischen Partei des Volkes (Hadep). Hikmet Fidan wurde am 6. Juli Opfer eines Attentats, das aus den Reihen der Kongra-Gel angeordnet worden war. Er hatte sich den Unmut der Guerilla zugezogen, weil er die Lösung der Kurdenfrage nicht mehr in erster Linie mit einer Generalamnestie für die Guerilleros und Abdullah Öcalan verknüpfte und mit oppositionellen kurdischen Gruppen im Nordirak Gespräche führte. Es gibt keinen unter den debattierenden Studenten, der Verständnis für das Attentat äußert. Einige sagen offen, dass sich die Kurden dadurch, dass sie Öcalan hörig sind, selber ein Armutszeugnis für ihren Demokratiewillen ausstellten. Das sind neue, ungewohnte Töne. Denn auch wenn nie alle Kurden die Guerilla bedingungslos unterstützten, so herrschte doch viele Jahre bis auf wenige Ausnahmen ein Konsens darüber, dass man sich zumindest passiv mit ihr solidarisieren müsse.

Fırats Mobiltelefon klingelt. Die DHA bittet ihn, ausnahmsweise einen Fototermin in Diyarbakır wahrzunehmen, weil alle Reporter der Agentur beschäftigt seien. Oberbürgermeister Baydemir weiht einen Waschsalon in einem der unzähligen Gecekondus (über Nacht gebaute Unterkünfte) vor dem Stadttor Mardinkapı ein. Wir verabschieden uns. Ein Student überrascht uns zum Schluss noch mit einer Persiflage aus dem Repertoire des beliebten Satirikers Murat Batgı. In einem Sketch parodiert dieser das Pathos kurdischer Lokalpolitiker. Er verbindet zwei rostige Tonnen mit einem roten Band, schneidet mit würdiger Miene die Schleife durch, wirft theatralisch eine Bananenschale in eine Tonne und sagt: »Für Kurdistan!«

Am anderen Ende der Stadt, vor den Toren der Altstadt, beklatscht eine überwiegend aus Frauen bestehende Menge einen kleinen Mann in einem tadellos sitzenden Anzug. Der Oberbürgermeister ist ein Veteran der politischen Bewegung, jahrelang war er Vorsitzender des Türkischen Menschenrechtsvereins von Diyarbakır. Er sitzt derzeit zwischen allen Stühlen und wird dabei aufgerieben. Vor drei Wochen luden kurdische und türkische Intellektuelle Ministerpräsident Tayyip Erdogan in die Stadt ein. Das Ganze geriet zur Farce. Obwohl viele sich einen »historischen« Besuch erhofft hatten, fuhr der Regierungschef an leeren Boulevards entlang und sprach in der Provinzhauptstadt auf halbleeren Plätzen. Dabei erklärte er öffentlich, seine Regierung werde die Fehler der Vergangenheit nicht ignorieren und auch nicht die Existenz der Kurdenfrage. Das war für ihn keine einfache Geste. Sein Vorgehen wurde vom türkischen Generalstab missbilligt, dessen Vertreter in den Medien, die ihnen treu ergeben sind, dagegen wüteten. Oberbürgermeister Osman Baydemir ignorierte den Besuch und wiederholte vor seinen Anhängern nur, dass es nötig sei, für alle Kurden, auch für die in den Bergen, eine Lösung zu finden. Ein Dialog zwischen beiden Seiten, wenn auch nur ein symbolischer, fand nicht statt.

Als der Oberbürgermeister sich an den etwa 300 ärmlich gekleideten Frauen und alten Männern vorbei in den kleinen Waschsalon zwängt, um eine von zehn importierten Waschmaschinen für das mindestens 600 Haushalte zählende Viertel eigenhändig zu starten, wirkt er ein wenig wie Murat Batgı. Nur dass seine Pose leider nicht satirisch gemeint ist.