Der gute Kiezkönig

Bundespräsident Horst Köhler stattete dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg einen Besuch ab. Alle hießen ihn willkommen. von christoph villinger

Ich bin in Polen geboren, und meine Eltern stammen aus einem Land, das heute Moldawien heißt«, erzählt Horst Köhler den Kindern der Jens-Nydahl-Schule. Mit seiner persönlichen Migrationsgeschichte gewinnt er die Sympathien und Herzen in der mitten in Kreuzberg gelegenen Schule. Wie der nette Onkel von nebenan wirkt Köhler, der CDU-Mitglied und seit einem guten Jahr Bundespräsident ist.

Sichtlich beeindruckt ihn eine kleine Demonstration der Schulleiterin Manuela Seidel. »Alle Kinder, deren Eltern nicht aus Deutschland stammen, setzen sich mal hin«, fordert sie die etwa 50 im Raum anwesenden acht- bis zwölfjährigen Schülerinnen und Schüler auf. Fast alle setzen sich. »Und jetzt stehen alle wieder auf, die im nahe gelegenen Urbankrankenhaus geboren sind«, worauf gut über die Hälfte der kleinen Kreuzbergerinnen und Kreuzberger wieder aufsteht. Selbstbewusst erzählt eine etwa zehnjährige Schülerin in bestem Deutsch, dass »meine Eltern mit einem türkischen Pass nach Deutschland kamen, aber ich bin Kurdin«.

Fünf Stunden lang tourte der Bundespräsident am Mittwoch voriger Woche zusammen mit der Führungsriege des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg durch den Stadtteil. Bereits seit vielen Monaten war der Besuch geplant. Mit dabei war die gesammelte Journalistenschar der Hauptstadt, die sich einen Kommentar zur Bundestagswahl erhoffte. Doch die Fragen nach »Jamaika« und »Ampeln« ließ Köhler unbeantwortet: »Jetzt sollen die mal machen, dann sehen wir weiter.«

Im Gegensatz zum bayrischen Innenminister Günther Beckstein (CSU) vor wenigen Wochen konnte Köhler den Bezirk ungestört erkunden. Am Morgen verschaffte er sich zunächst vom zwölften Stock des Lichtturms der Oberbaum-City einen Überblick. Schon während Baustadtrat Franz Schulz (Grüne) ihm bei dieser Gelegenheit die ehrgeizigen Entwicklungspläne für das Gebiet links und rechts der Spree vorstellte, präsentierte sich Köhler als einer, der kritisch nachfragt, als der »gute König«, der etwas über die Probleme der Leute erfahren will. Und die sonst so rebellischen »Untertanen« meldeten: »Alles in Ordnung.«

So stellte der Bundespräsident in seiner vermeintlichen Naivität die Frage, ob denn die neuen Häuser am Spreeufer für 40 000 Menschen für die vielen kinderreichen türkischen Familien aus Kreuzberg gedacht seien. Darauf waren die Kreuzberger Bezirkspolitiker nicht vorbereitet und stammelten etwas von »Eigentumswohnungen, die eher im oberen Segment des Marktes platziert sind«. Schnell wechselten sie das Thema und begrüßten, dass viele von der Medienindustrie angelockte junge EU-Bürger dem Wrangelkiez »frisches Blut« zuführten. Lediglich in einem Nebensatz erwähnte Schulz, dass die türkische Bevölkerung vor Verdrängung zu schützen sei.

Im weiteren Verlauf des Tages entdeckte das Vorstandsmitglied der HVB Immobilien AG, Friedhelm Bullendieck, in seiner Begrüßungsrede bei Köhler gar einen »personifizierten Glanz«. Die BASF Services Europa ließ ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit regenbogenfarbenen Halstüchern zum lockeren Spalier antreten. 500 Arbeitsplätze wolle man hier mit einer neuen zentralen Buchhaltung für die etwa 100 Unternehmen der BASF-Gruppe schaffen. Auf den nahe liegenden Gedanken, dass dafür an anderen Orten mindestens 1 000 Arbeitsplätze abgebaut werden könnten, kam niemand. Hauptsache, man werde an diesem neuen Ort »gemeinsam mit den Gewerkschaften« den Tarifvertrag umgehen, »sich nach vorne entwickeln« und »Handlungsfähigkeit beweisen«.

Nicht viel anders ging es an der nächsten Station der Besichtigungstour zu, dem alternativen Kulturprojekt RAW-Tempel. Verschiedene Künstler, Handwerker und Gaukler aus dem »Paralleluniversum« turnten, spielten und töpferten zu Ehren des Bundespräsidenten, was das Zeug hält. »Desch g’fällt mir«, lobte der im schwäbischen Ludwigsburg aufgewachsene Köhler. Denn »hier beschwert sich erst mal keiner, sondern führt etwas vor«. Auch als er später, auf einem abgewetzten Sofa sitzend, nach Problemen des Projekts fragte, war nichts Kritisches zu vernehmen. Kein Wort zu Hartz IV oder ähnlichem. »Ein bisschen mehr Unterstützung« erhoffe und wünsche man sich, sowie eine Aufwertung der ehrenamtlichen Arbeit.

Die Ängste der Bodyguards vor dem Besuch des RAW-Geländes erwiesen sich als grundlos, denn niemand bedrohte den früheren langjährigen Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die vielen auf dem Gelände verteilten Obdachlosen und Punks mit Knöpfen im Ohr brauchten nicht einzugreifen. Aber der durch dicke Vorhänge abgedunkelte Saal des so genannten Ambulatoriums hinterließ bei einem der Zivilpolizisten einen bleibenden Eindruck: »Dies hier ist das Grausamste, was ich bisher mitmachen musste.«

Anschließend fuhr man in einem mit dunkel getönten Scheiben ausgestatteten VIP-Bus in großem Bogen durch Friedrichshain nach Kreuzberg zum Obdachlosenheim der Siefos GmbH in der Waldemarstraße. Hier haben zurzeit über 100 kranke und pflegebedürftige Menschen von der Straße eine Unterkunft. In gewohnter Manier, ohne jegliche Berührungsängste setzte sich Köhler zum Mittagessen in der Kantine zwischen die Obdachlosen. Bei Gulasch, Rotkohl und Salzkartoffeln plauderte er eine halbe Stunde lang angeregt mit Leuten, die ansonsten rund um die Uhr den nahe gelegenen Oranienplatz bevölkern. Aufdringliche Pressefotografen mussten sich nach wenigen Minuten aus dem Raum entfernen. Auch als Vertreter der knallharten neoliberalen Politik des IWF hatte Köhler nie ein Problem damit, von Zeit zu Zeit in Afrika einen Slum zu besuchen und die Bewohnerinnen und Bewohner für ihr Engagement zu loben. Die beiden Geschäftsführerinnen der Siefos GmbH freuten sich darüber, dass der Bundespräsident sich für ihre Arbeit interessiert.

Es blieb den zumeist aus der Türkei stammenden Elternvertreterinnen und -vertretern der Jens-Nydahl-Schule vorbehalten, Köhler in seine Widersprüche als leutseliger Präsident zu verwickeln. »600 Stunden Unterrichtsausfall gab es allein im letzten Jahr, weil kein Geld für genügend Lehrer da ist«, beschwerte sich ein Vater. Und einige Mütter mit Kopftüchern erzählten dem Präsidenten von ihren Jugendlichen, die keine Lehrstellen finden und nun auf der Straße herumhängen. »Das ist ein echtes Problem«, sagte Köhler dazu und flüchtete sich schnell in Floskeln wie »Bildungschancen für alle«.

Da stellte er sich doch lieber den Fragen der Kinder. Nach der Aufzählung seiner Hobbys sollte er etwa beantworten, »ob auch eine Frau mit Kopftuch Bundeskanzlerin werden kann«, ob er Angst vor dem Durchfallen bei Wahlen habe oder ob sein Herz vor dem Besuch ihrer Schule sehr geklopft habe. Köhler zeigte sich sichtlich angetan von der Offenheit und Neugierde der Kinder, und die Kinder von seinem ungezwungenen Umgang. Am Ende fragte Köhler seine neuen Freundinnen und Freunde, ob es ihnen in ihrer Schule gefalle. »Jaaaa!«, tönte es aus allen Mündern, worauf eine Lehrerin trocken kommentierte: »Also so eindeutig habe ich das noch nie gehört.«