»…in die Berge bringt mich dann«

Jedes Jahr im September veranstaltet das deutsch-italienische Institut Istoreco in Reggio Emilia Wanderungen und Begegnungen mit italienischen Partisanen. von felix hoffmann (text und fotos)

Es wird ein schöner Tag. Das sieht man schon beim ersten Blick in den Himmel. Viel Blau, wenige Wolken. Nur die Luft fühlt sich noch ein wenig kalt an. Aber das ist auch kein Wunder, gegen acht Uhr am frühen Morgen.

Wir stehen an einer alten, stillgelegten Mühle. Vor uns führt ein schmaler Trampelpfad hinauf in die grünen Hügel des Apennin. Hinter uns liegt die Superstrada 63. In den drei Tagen unserer Wanderung drehen sich die Geschichten, die wir hören, immer wieder um diesen wichtigen Verbindungsweg. Daniele, unser Bergführer, erklärt, warum: »Die Straße wurde von den deutschen Truppen als Verbindungsweg zwischen Reggio Emilia, der Po-Ebene und La Spezia Richtung Gothenlinie benutzt. Damit hatte sie eine wichtige strategische Bedeutung. Die Partisanen haben deswegen versucht, diese Versorgungslinie zu unterbrechen, zum Beispiel mit Brückensprengungen.«

Während auf dem Asphalt ein Lastwagen die kurvenreiche Strecke hinaufächzt, setzt sich unsere Gruppe aus rund 70 Menschen in Bewegung: hinauf in die Berge, auf den Spuren der italienischen Partisanen.

Es ist der zweite Tag der Wanderungen, die den Namen »Sentieri Partigiani« tragen und die in diesem Jahr das 13. Mal stattfinden. Jeden Tag erwandern wir uns – Teilnehmer aus unterschiedlichen Orten Deutschlands, die meisten zwischen 20 und 40 Jahren alt – dabei ein Stück der italienischen Widerstandsgeschichte. Und jeden Tag treffen wir Zeitzeugen von damals, die uns von ihren Erlebnissen erzählen und mit uns diskutieren.

An dieser Stelle sei ein kurzer Blick in die Geschichte geworfen: Am 25. Juli 1943 stürzt Italiens König Vittorio Emmanuele III. den Duce, Benito Mussolini. Doch es dauert bis zum 8. September, bis der Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnet wird. Von diesem Tag an entsteht eine unübersichtliche Situation für die italienischen Soldaten. Statt klare Befehle von der Regierung zu erhalten, werden sie alleingelassen. Die ausgegebene Devise heißt schlicht, auf »Angriffe von jeglicher anderer Seite« zu reagieren. Während der König und die Regierung in von den Alliierten besetztes Gebiet flüchten, begreifen viele Soldaten das Ausbleiben von Anweisungen als Aufruf, die Waffen ruhen zu lassen und nach Hause zu gehen. Gleichzeitig beginnen die deutschen Truppen mit der Besetzung des Landes.

Es ist die Geburtsstunde der Resistenza: Um sich vor deutscher Kriegsgefangenschaft zu schützen, bekommen viele Soldaten trotz der generellen Mangelsituation Kleidung von der Zivilbevölkerung geschenkt, um ohne Uniform ihre Heimatorte erreichen zu können. Dennoch landen in der Folgezeit rund 650 000 italienische Soldaten in Kriegsgefangenenlagern in Deutschland. Etwa 16 000 von ihnen sterben. Und während Mussolini von deutschen Fallschirmjägern aus seinem Gefängnis am Gran Sasso in den Abruzzen befreit wird und später in Saló seine Repubblica Sociale Italiana gründet, gehen immer mehr Italiener im noch nicht befreiten Teil Italiens in den Widerstand. Am Anfang, im Herbst 1943, sind es noch etwa 3 800 Partisanen, die zum Beispiel in der Emilia Romagna erste Banden bilden. Bis zum Kriegsende im April 1945 sind es 250 000 Italiener, die gegen die Faschisten kämpfen.

Schritt für Schritt geht es bei unserer Wanderung weiter auf den mit 1 800 Metern höchsten Berg der Umgebung, den Monte Ventasso. Zuerst führt der Weg durch dichte Birkenwälder, dann über lichte Wiesen bis hin zu einer Berghütte. Sie diente den Partisanen von Zeit zu Zeit als Unterschlupf. Dann erklimmen wir den Gipfel. Unter uns zieht eine Wolkendecke vorbei. Grüne Hügel und Täler wechseln sich ab. »Das hier war ein wichtiger Aussichtspunkt«, erklärt der 45jährige Daniele und berichtet, wie er es früher, als kleiner Junge mit seinen Freunden um die Wette laufend, innerhalb von viereinhalb Minuten zu dem unter uns liegenden Bergsee geschafft hat. In dieser Gegend ist der verschmitzt guckende kleine Mann mit den funkelnden Augen aufgewachsen. Auf seinem schwarzen Basecap steht in roter Schrift »Mammut«.

In der Mittagspause machen wir Rast auf der Terrasse einer großen Bar. Das Gebäude ganz aus dunklem Holz sieht ein wenig wie eine Alpenhütte aus. Bei Salami und Käse sprechen wir unter anderem mit Marmiroli Camillo, genannt Mircko. Er ist im Mai 1944 zu den Partisanen gekommen. Vorher war er lange als italienischer Soldat auf dem Balkan. »Dort habe ich viele Schweinereien gesehen«, sagt der heute 85jährige, »einmal mussten wir die Leichen aus einem Dorf entfernen, in dem ein Spezialkommando alle Einwohner erschossen hat.« Seine Erlebnisse in Jugoslawien bringen ihn dazu, zu den Partisanen zu gehen und gegen die Faschisten zu kämpfen.

So engagiert er erzählt, so körperlich gebrechlich ist er inzwischen. Er muss sich auf einen Stock stützen, seine Augen wirken immer ein bisschen traurig. Trotzdem passt sein grauer Anzug nicht zu seiner Lebenseinstellung. Er berichtet, wie er deutsche Soldaten vor dem Erschießen durch Partisanen gerettet hat, wie er mit Gefangenen das wenige Brot geteilt hat. »Ich will hier nicht die Diva spielen«, sagt er, »aber wenn ich in den Himmel komme, habe ich dort zwei Stühle.« Wie er waren viele der Widerstandskämpfer eigentlich unpolitisch. Sie kannten nur den Faschismus, der seit 1922 in Italien herrschte. So genannte Polit-Kommissare versuchten, die jungen Leute auf das Leben nach dem Krieg vorzubereiten. »Von ihnen habe ich überhaupt erst gelernt, was Gewerkschaften oder Parteien sind«, erzählt Mircko.

Nach der Befreiung Italiens wird der 25. April zum Nationalfeiertag. Es ist der Tag der großen Partisanenaufstände in den Städten im Norden Italiens. Die Verfassung wird auf dem Erbe des antifaschistischen Kampfs errichtet. Schon kurz nach dem Krieg und auch heute wird von rechter Seite versucht, dieses Erbe in Frage zu stellen. Faschisten werden mit Partisanen gleichgesetzt. »Jeder hat eine persönliche Entscheidung für eine der Seiten getroffen. Beide haben ihre Berechtigung, so wird das inzwischen interpretiert«, sagt Steffen Kreuseler vom Istituto Istoreco, der seit vielen Jahren die »Sentieri Partigiani« mitorganisiert. Dazu passt, was uns ein Partisan am ersten Abend gesagt hat: »Uns ist klar, dass es noch viel zu tun gibt.« Und im Land der Fußballverrückten fügt er hinzu: »Die Partie ist noch nicht zu Ende gespielt.«

Endpunkt unserer Wanderung ist heute der Ort Collagna. Auf einem Platz mit Brunnen, zwischen Ristorante und Tabacchi-Laden, bringt der Bürgermeister in einem feierlichen Akt das Projekt »Ein Denkmal für Tira« auf den Weg. »Tira« war ein Widerstandskämpfer, der bei einem Angriff auf eine deutsche Stellung auf einer Brücke vor Collagna gefangengenommen wurde. Die Deutschen trieben ihn durchs Dorf und warfen ihn anschließend von der Brücke. Er war Munitionsträger. Sein Maschinengewehrschütze, Ivo Rivi, konnte entkommen. Der wusste bis letztes Jahr nicht, wer hinter dem Decknamen »Tira« eigentlich steckte. Erst durch die »Sentieri Partigiani« konnte vor zwölf Monaten mithilfe von Recherchen die Identität des Mannes herausgefunden werden. Ivo Rivi war die Geschichte so wichtig, dass er sich für die Errichtung des Denkmals in Collagna eingesetzt hat. Heute verspricht der Bürgermeister, dass im nächsten Jahr das Denkmal steht. Nach seiner Rede spielt die Band Gasparazzo aus Reggio Emilia ihr selbstkomponiertes Lied über die tragische Geschichte des toten Partisans.

Am Abend sitzen wir wieder in Busana, in unserem Hotel »Il Castagno«. Es hat früher der deutschen Wehrmacht als Hauptquartier gedient. Wir essen im Speisesaal, es gibt Nudeln, Fleisch und Gemüse. Damals befand sich neben dem großen Raum eine Ehrenkammer zum Gedenken an die gefallenen deutschen Soldaten. Hinter dem Gebäude gab es einen kleinen Friedhof. Als das Essen abgeräumt ist, rücken die Verbliebenen ihre Stühle zusammen. Es ist einer dieser Momente, die man sich im Holzrahmen an die Wand hängen kann: Da, wo früher SS und Wehrmacht ihre Kriegspläne ausgeheckt haben, sitzen nun ein paar ehemalige Partisanen und singen zusammen mit der Band Gasparazzo, die aus Collagna mitgekommen ist, und Teilnehmern der »Sentieri Partigiani« die alten Lieder: »Bella Ciao« und »Bandiera Rossa«.

Die Resistenza ist ein in Deutschland vernachlässigtes Thema. Während Urlaub machende deutsche Touristen in Italien mit dem Cappuccino in der Hand von den großen Kulturschätzen des Landes schwärmen, interessiert dieser Teil der deutsch-italienischen Geschichte die meisten herzlich wenig. Auch neuere Literatur zum Thema ist rar. Zuletzt wurde wenigstens im Rahmen der Jahrestage zum 60jährigen Gedenken an das Kriegsende und zum Anlass einiger Kriegsverbrecherprozesse in den Medien berichtet, zum Beispiel über St. Anna di Stazzema (Jungle World 26/05), wo bei einem Massaker 560 Italiener ermordet worden waren.

Steffen Kreuseler verwundert die weit verbreitete Ignoranz gegenüber der Resistenza. »Schließlich handelt es sich hierbei um den größten und stärksten bewaffneten Widerstand in Westeuropa.« Gerade deswegen hat er es sich zur Aufgabe gemacht, Deutsche und Italiener auf diese Weise zusammenzubringen. Lange wird das nicht mehr möglich sein: Die Partisanen von einst sind heute fast alle über 80 Jahre alt. Immer weniger sind in der Lage, ihre Geschichten öffentlich zu erzählen.

Am nächsten Morgen geht es in das Dorf Saccaggio. Wieder werden wir von ehemaligen Widerständlern empfangen. Auch der Kulturdezernent der Kommune, Massimo Zamboni, ist da. Früher war er Gitarrist der Punkband CCCP. Jetzt findet der Mann mit schwarzen Locken, Nickelbrille und der zu diesem Anlass extra umgelegten italienischen Schärpe bedeutungsvolle Worte für unseren Besuch: »Es macht großen Eindruck, hier nach so langer Zeit das erste Mal wieder die deutsche Sprache zu hören. Als die Bewohner dieses Dorfes sie das letzte Mal gehört haben, war der Eindruck allerdings noch viel stärker. Und viel schrecklicher!« Auf dem Platz, an dem wir stehen, wurde an einem Tag ein Massaker verübt, das sechs Tote zur Folge hatte. Nach den Reden geht es wieder einmal bergauf. Über einen ehemaligen, wichtigen Nord-Süd-Versorgungsweg der Partisanen auf die Burg Carpi Neti. Auch hier wurden bei Kämpfen Teile der Festung zerstört. In einer kleinen Kapelle in der Burganlage treffen wir die letzten Zeitzeugen auf unserer Reise. Diesmal sind es Frauen, die beiden Schwestern Gianna und Laura Quadreri.

Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Laura ist klein und trägt einen hellblauen Pullover. Sie kann kaum die Übersetzung einer Frage abwarten, so schnell möchte sie selber zu Wort kommen. Wegen ihrer Parkinson-Krankheit spricht sie nur noch undeutlich. Die Sätze klingen abgehackt, immer wieder bleibt ihr die Luft weg. Im Krieg war sie als Krankenschwester für die Versorgung von verletzten Partisanen verantwortlich.

Ihre Schwester Gianna, elegant gekleidet in schwarzer Weste und weißem Hemd, sitzt schüchtern neben ihr, blickt oft zu Boden und reibt ihre Finger in den Handflächen, während sie spricht. Sie war als Botin, als so genannte Staffetta, zwischen Reggio Emilia und der Po-Ebene unterwegs. Staffetten hatten die Aufgabe, Nachrichten, wichtige Unterlagen, Lebensmittel oder Waffen aus den Orten in die Berge zu bringen oder zwischen den Partisaneneinheiten hin- und herzutransportieren.

Die damals 16jährige Gianna hatte ihre Informationen auf Zigarettenpapier geschrieben. Das konnte man im Notfall schnell zerkauen und herunterschlucken. Weil sich Frauen im Gegensatz zu Männern noch unauffällig in der Gegend bewegen konnten, waren sie für diese Aufgaben gut geeignet. Männer konnten in Zivil kaum öffentlich unterwegs sein. Entweder wurden sie sofort zu den italienischen faschistischen Truppen eingezogen, oder sie wurden von den Deutschen gefangengenommen. Auf jeden Fall mussten sie ständig befürchten, kontrolliert zu werden.

Beide Frauen bleiben bei ihren Erzählungen uns gegenüber zurückhaltend. Statt Heldengeschichten wiederzugeben, sagen sie nur: »Wir haben das alles gemacht, weil es eben so war.« Immer wieder wollen wir von beiden wissen, ob sie sich mit ihren Leistungen für den Widerstand heute ausreichend anerkannt fühlen? Sie winden sich ein wenig. Irgendwann streiten sie ein bisschen: »Immerhin hat es etwas mehr Rente gegeben«, sagt Gianna. »Das bisschen Geld, das ist ja wohl ein Hohn«, findet Laura.

Etwa 70 000 Frauen waren in der Resistenza aktiv. Die meisten davon zählten nicht zu den Kämpfern, sondern leisteten andere Dienste, eben zum Beispiel als Staffetten, oder halfen auch bei Sabotageakten in Fabriken. Ihre Leistungen wurden nach dem Krieg nur eingeschränkt anerkannt. Offiziell galten als Partisanen lediglich diejenigen, die mit der Waffe gekämpft haben. Eine stark militaristische Sichtweise, bei der viele Widerstandsformen nicht ausreichend gewürdigt worden sind. Vor diesem Hintergrund mussten viele Frauen nach dem Krieg hart um ihre offizielle Anerkennung kämpfen.

Am Ende des Gesprächs gibt es Applaus. Laura erhebt sich und wirft ihren Zuhörern Kusshände entgegen. »Ricordare«, ruft sie – »Erinnern!«

Doch Erinnern allein reicht nicht, weiß Steffen Kreuseler. Als er unlängst mit Kollegen zusammen in Mailand war, um dort Szenen für einen Dokumentarfilm zu drehen, wollten sie eigentlich in einem Centro Sociale, einem der besetzten linken Zentren in Italien, übernachten. Doch in den Tagen zuvor hatte eine Gruppe von Faschisten das Gebäude zerstört. Seit Monaten kommt es in Mailand, wie auch in anderen Städten Italiens, zu immer mehr Übergriffen faschistischer Gruppen auf linke Aktivisten und ihre Zentren. Der italienische rechte Mainstream, der sich mit Silvio Berlusconi und Gianfranco Fini in der Gesellschaft etabliert hat, hinterlässt seine Spuren längst auch schon am gewalttätigen rechten Rand. Es gibt wirklich noch viel zu tun.

Das Istituto Istoreco im Netz: www.istoreco.re.it

Informationen zur Resistenza: www.partigiani.de