Kontrolle ist besser

Vor dem Beginn von Verhandlungen über die Zukunft des Kosovo verschlechtert sich die Sicherheitslage in der Krisenprovinz. von boris kanzleiter, belgrad

Wir sind absolut darauf verpflichtet, allen Bürgern hier Sicherheit zu bieten.« Das war die Botschaft des Nato-Kommandierenden im Mittelmeerraum, Harry Ulrich, als er Ende vergangener Woche in Pristina vor die Presse trat. Unkontrollierte Gewaltausbrüche sollen unter allen Umständen unterbunden werden. Nach Gesprächen mit dem Kosovo-Präsidenten Ibrahim Rugova und Funktionären der UN-Übergangsverwaltung (Unmik) erklärte der Admiral der US-Streitkräfte, die westliche Militärallianz sei für alle Fälle gerüstet, wenn in den kommenden Tagen die Vorbereitungen für den Beginn von Verhandlungen über den umstrittenen zukünftigen völkerrechtlichen Status der Provinz getroffen werden. Bereits seit zwei Wochen hat ein Teil der 17 000 Soldaten der von der Nato geführten Kosovo-Truppe Kfor seine Präsenz verstärkt, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.

Vor allem bei Serben und Roma im Kosovo wächst in diesen Tagen dennoch die Angst. Ähnlich wie vor den Pogromen im März vergangenen Jahres (Jungle World, 14/04) – als zehntausende albanische Demonstranten isolierte Siedlungsenklaven der Minderheiten angriffen und die Kfor bei ihrem Schutzauftrag kläglich versagte – häufen sich seit einigen Wochen wieder gezielte Anschläge. Begonnen hat die Serie Ende August, als zwei junge Serben auf einer Straße ermordet wurden, nur weil sie es bei Strpce wagten, in einem Auto mit serbischem Kennzeichen durch albanisches Gebiet zu fahren. Vergangene Woche explodierte im Dorf Zhiti eine Bombe in einem gerade fertig gestellten Haus, das von einer serbischen Rückkehrerfamilie bezogen werden sollte. Nur wenige Tage zuvor war eine Roma-Rückkehrerfamilie in Crkvena Vodic beschossen worden. Am Mittwoch vergangener Woche schließlich wurde bei Gnjilane ein serbischer Offizier der von der UN aufgebauten multiethnischen Kosovo-Polizei aus dem Hinterhalt beschossen.

Die Sicherheitslage im Kosovo verschlechtert sich genau zu dem Zeitpunkt, in dem die internationale Krisendiplomatie Verhandlungen über die Zukunft der Provinz einleiten möchte. Nach mehrmonatiger Vorbereitung soll Anfang Oktober ein Sonderberichterstatter der UN, der norwegische Diplomat Kai Eide, einen Bericht über die Lage in der Krisenprovinz vorlegen und sich über die Chancen eines Verhandlungsprozesses äußern. Obwohl Eide bereits mehrmals angedeutet hat, dass er sich in seinem Report über die Einhaltung demokratischer und menschenrechtlicher Standards deutlich kritisch äußern wird, bestehen bei Beobachtern keine Zweifel, dass er für die baldige Aufnahme von international geleiteten Verhandlungen plädieren wird.

Dies bestätigte vergangene Woche auch der EU-Sicherheitskoordinator Javier Solana. Er äußerte die Erwartung, die Verhandlungen würden bis Ende des Jahres beginnen. Der Balkan soll nach seinen Worten in das »Zentrum der EU-Strategie für 2006« gestellt werden.

Tatsächlich wird einige Aufmerksamkeit notwendig sein, um zu verhindern, dass die Verhandlungen zu neuen Konfrontationen führen. Allein die Aufnahme von Gesprächen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine Notlösung. Bislang galt bei der Unmik die Devise: Zuerst müssen im Kosovo demokratische und menschenrechtliche »Standards« wie der Schutz der Minderheiten erfüllt sein, dann kann über den zwischen Belgrad und Pristina umstrittenen »Status« der Provinz geredet werden. Nun soll auf einmal auch ohne die Erfüllung der »Standards« verhandelt werden.

Der Grund dafür ist einfach: Die Albaner drohen mit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung im Kosovo-Parlament, sollten die Verhandlungen nicht bald beginnen. In diesem Fall könnte sich die Unmik bald in der Rolle einer Besatzungsmacht wiederfinden, die von einer zunehmend feindseligen Bevölkerung bekämpft wird. Der einflussreiche Präsident der Schriftstellervereinigung im Kosovo und ehemalige UCK-Sprecher, Adem Demaci, warnte kürzlich sogar, ohne eine schnelle Unabhängigkeit drohe ein neuer Krieg.

Der Plan für einen Umgang mit dem Kosovo ist in den westlichen Sicherheitsstrukturen umstritten. Während Experten der International Crisis Group (ICG), die der Nato nahe steht, die Gewaltdrohungen der Albaner ernst nehmen und prognostizieren, Kosovo könne zur »West Bank Europas« werden, argumentieren andere Sicherheitsexperten genau umgekehrt. Jonathan Eyal vom Londoner Royal United Services Institute meinte vorige Woche, die Einleitung von Verhandlungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde nur den Gewalttätern der März-Pogrome Recht geben. Die Botschaft sei: »Je gewalttätiger du bist, desto mehr Gehör wirst du finden.«

Die Vehemenz, mit der von den Albanern eine schnelle Unabhängigkeit des Kosovo gefordert wird, ist einerseits auf den Ethnonationalismus zurückzuführen, der hauptsächlich von Intellektuellen und Schriftstellern wie Rugova und Demaci propagiert wird. Demnach ist die staatliche Unabhängigkeit des Kosovo eine historische Mission der albanischen Nation. Andererseits mischen sich in die Forderung auch eine Reihe anderer Motive. So versprechen die Nationalisten, dass nur eine Unabhängigkeit den Kosovo-Albanern aus ihrer miserablen sozialen Lage helfen könne. Nach Angaben der Weltbank leben fast 40 Prozent der Bewohner des Kosovo von nur etwa 1,50 Euro pro Tag. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 60 Prozent. Angefeuert wird die Bewegung nicht zuletzt auch durch die wachsende Ernüchterung über den bürokratischen und undemokratischen Apparat der Unmik mit seinen Tausenden von internationalen Mitarbeitern, der von radikalen Unabhängigkeitskämpfern wie dem vorlauten Führer der Bewegung »Selbstbestimmung«, Albin Kurti, als »Kolonialbehörde« bezeichnet wird.

In erster Linie richtet sich die albanische Forderung nach Unabhängigkeit jedoch gegen Serbien, dessen formaler Bestandteil Kosovo vor allem auf Drängen von Russland und China – die separatistische Bewegungen im jeweils eigenen Land fürchten – auch nach dem Nato-Bombardement von 1999 geblieben ist. Während die politischen Führer der Kosovo-Albaner betonen, die »serbische Aggression« in den neunziger Jahren habe ein Zusammenleben von Albanern und Serben in einem gemeinsamen Staat unmöglich gemacht, besteht die serbische Regierung darauf, dass das Kosovo wegen seiner Geschichte als Wiege der serbisch-orthodoxen Kirche einen untrennbaren Bestandteil Serbiens bildet. Politiker wie Außenminister Vuk Draskovic und Präsident Boris Tadic warnen zudem vor einer Destabilisierung des gesamten Balkans, sollte das Kosovo die staatliche Unabhängigkeit erhalten. Nach ihrer Argumentation würden dadurch territoriale Fragen auch in Bosnien und Mazedonien wieder gestellt werden.

Außerdem droht eine weitere Gefahr: Eine vom Westen diktierte Unabhängigkeit des Kosovo könnte in Serbien die ohnehin labile Regierungskoalition unter Premierminister Vojislav Kostunica stürzen und die radikalen Nationalisten weiter stärken. Und mit denen wird der Westen kaum verhandeln können.