In Rio sind noch Zimmer frei

Viele Obdachlose in Rio de Janeiro beziehen leerstehende Wohnungen. Nun bildet sich auch eine Besetzungsbewegung. von thilo f. papacek

Tagsüber ist das Zentrum von Rio de Janeiro in den Händen der camelôs. Die fliegenden Händler der brasilianischen Metropole bieten im Straßengewimmel von billigen Sonnenbrillen bis zu gebrannten CDs alles Mögliche feil. Abends heißt es für die meisten, den langen Weg in die Favelas der nördlichen Peripherie anzutreten. Denn Wohnungen im Zentrum oder im mondänen Süden der Stadt sind mit dem Verkauf von ein paar Uhren nicht zu finanzieren. Selbst die Quartiere in den südlichen Favelas sind teurer als im Norden.

So muss ein Teil der camelôs mehrstündige Fahrten in überfüllten Bussen und Zügen in Kauf nehmen. Andere bleiben lieber gleich in der Stadt. »Viele Straßenhändler leben inzwischen lieber auf der Straße als in den Favelas der Peripherie«, sagt Andreia Carla Ferreira da Silva. Wenn man weit draußen lebt, ist man von allem ausgeschlossen, insbesondere von einem Job.

Andreia selbst wohnt seit etwa einem Jahr in einem besetzten Haus im Zentrum Rios. Am Montag vergangener Woche berichtete sie in Berlin auf einer Veranstaltung der Gruppe Fels von ihren Erfahrungen. Zusammen mit den anderen Aktivisten der Front des Populären Kampfes (FLP) hat sie ein ehemaliges Hotel besetzt. »Vorher war unsere Gruppe vor allem gegen Polizeigewalt tätig. Doch da viele unserer Aktivisten selbst kein Dach über dem Kopf hatten und bei Verwandten lebten, sind wir auf die Idee gekommen, ein Haus zu besetzen«, erzählt sie.

Die ersten Treffen fanden mit wenigen Aktivisten auf der Straße statt. Doch immer mehr Menschen, insbesondere Obdachlose, beteiligten sich an den offenen Versammlungen. Nach vier Monaten Vorbereitung war es so weit. Sie besetzten ein leeres Hochhaus und nannten es »Chiquinha Gonzaga«, nach einer brasilianischen Musikerin, die sich im 19. Jahrhundert gegen die Sklaverei engagierte.

In Brasilien fehlen über sieben Millionen Wohnungen, andererseits stehen fast fünf Millionen Häuser leer. Besonders in den großen Städten des Südostens, wie Rio de Janeiro, übersteigt die Zahl der Leerstände sogar die der benötigten Wohnungen. Häufig ziehen Obdachlose in diese Häuser, doch nicht in organisierter Form. Die Wohnungen bleiben Elendsquartiere ohne Strom und Wasser.

Dagegen sieht das »Chiquinha Gonzaga« schon anders aus. Mittlerweile gibt es Strom und Wasser auf allen zwölf Stockwerken des Hauses. In einem Spielzimmer können sich die 30 Kinder, die im Haus leben, austoben. Im großen Saal finden neben den Plena auch Alphabetisierungskurse und andere Weiterbildungsseminare statt.

Mit den Behörden haben die Besetzer bislang wenig Probleme. Zwar kam am Anfang die Polizei vorbei, doch sie stürmte nicht das Haus. »›Chiquinha Gonzaga‹ gehört der Bundesregierung. Ohne deren Einwilligung kann die Militärpolizei, die dem Bundesstaat Rio de Janeiro untersteht, das Haus nicht räumen«, erklärt Andreia. Da das Haus seit 21 Jahren ohnehin leer steht, scheint sich niemand so recht an den Besetzern zu stören.

Der Stress im Squat ist eher hausgemacht. »Insbesondere zwischen den politisch engagierten Studenten und den ehemaligen Obdachlosen hat es öfter gekracht. Für viele Arme gilt jemand, der studiert und Geld hat, nicht als obdachlos. Deshalb sollten sie nicht im Haus leben, meinten einige. Außerdem befürchteten viele, dass die Studenten ihre politischen Ideen den anderen aufzwingen wollen«, beschreibt Andreia die Konflikte.

Doch trotz aller Querelen kommt das Projekt bei den Leuten gut an. »Es meldeten sich so viele Leute, die bei uns einziehen wollten, dass wir bald das nächste Haus besetzten«, sagt Andreia. Das neu besetzte Gebäude befindet sich gleich um die Ecke. Obwohl an diesem Haus weit mehr zu reparieren ist als im »Chiquinha Gonzaga«, ist es auch bereits voll. Und eine weitere Besetzung ist schon geplant.