»Die russischen Zuwanderer sind unsere Zielgruppe«

Lutz Lorenz

Mit einer Startauflage von 40 000 Exemplaren ist im September die Jüdische Zeitung erstmals erschienen. Die Monatszeitung wird vom Berliner Werner Media Verlag herausgegeben.

Lutz Lorenz gehört zur vierköpfigen Redaktion und ist zuständig für Politik, Zeitgeschichte und Jüdisches Leben. Der 1962 in Berlin geborene Journalist studierte Theater- und Kulturwissenschaft und leitete zuletzt das Jüdische Kulturfestival in Berlin. Mit ihm sprach Heike Runge.

Im September ist die erste Ausgabe der Jüdischen Zeitung erschienen. Wie ist die Resonanz auf die Zeitung?

Es gibt sehr viele positive Leserbriefe und auch viele Anrufer, die uns zum Neustart gratulieren.

Wer freut sich denn so mit Ihnen?

Zum Beispiel der ehemalige israelische Botschafter Avi Primor und der Vorsitzende der Linkspartei, Gregor Gysi.

Gibt es auch Kritik?

Es gibt jedenfalls viele Anregungen und ein paar davon werden wir auch aufgreifen. Zum Beispiel die Idee einer Leserin aus Potsdam, die vorschlug, über den Film »Paradise Now« zu diskutieren. Der Film ist ja nicht nur in Deutschland sehr umstritten. Wir haben ihn zum Kinostart von einem Künstler besprechen lassen, der in Israel geboren ist und in den USA lebt und der den Film durchaus positiv beurteilt hat. Wir sind jetzt natürlich gespannt auf das Pro und Contra.

Die Auflage geben Sie mit 40 000 an. Damit liegen Sie erheblich über der Auflage der Jüdischen Allgemeinen. Dennoch betonen Sie, dass Sie der Zeitung keine Konkurrenz machen wollen. Wie soll das gehen?

Der deutsche Zeitungsmarkt und insbesondere der Leserkreis, der sich mit unserem Themenspektrum beschäftigt, gibt einiges mehr her als nur eine einzige Zeitung. Wenn wir an die Zeit vor 1933 denken, gab es damals eine große Zahl an jüdischen Zeitungen. Anders als die Jüdische Allgemeine, die sich am Zentralrat der Juden orientiert, wollen wir das jüdische Leben ein bisschen facettenreicher verstehen und uns auch intensiv mit den Vorgängen in der Union der progressiven Juden, den Chabat-Lubawitsch-Gemeinden und den säkularen Vereinen auseinandersetzen. Außerdem bieten wir Seiten zur Weltpolitik und Israel.

Wen wünschen Sie sich als Leser?

Wir haben ja bereits Erfahrungen mit einer anderen jüdischen Zeitung, die in unserem Haus erscheint. Seit vier Jahren geben wir die russischsprachige Evreyskaya Gazeta heraus, die sich in erster Linie an die jüdischen Zuwanderer aus den ehemaligen GUS-Staaten wendet. Diese Migranten sprechen sowohl in ihren Familien als auch in ihrem gesellschaftlichen Umfeld in erster Linie Russisch. Das ändert sich aber bereits in der zweiten und dritten Generation. Diese Generation ist in Deutschland aufgewachsen oder sogar hier geboren, wurde hier ausgebildet oder hat hier studiert. An diese Zielgruppe wendet sich die Jüdische Zeitung vorrangig.

Wie beschreiben Sie die Blattlinie der Jüdischen Zeitung? Welche gesellschaftlichen Positionen möchten Sie stärken?

Da verweise ich auf unseren Untertitel, wir werden uns mit zeitgenössischem Judentum und zugleich mit seiner Geschichte und Kultur befassen.

Welche Bedeutung haben die Erinnerung an den Holocaust und die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus für Ihre Zeitung?

Man wird den Holocaust in einer jüdischen Zeitung immer thematisieren und immer thematisieren müssen. Das heißt aber nicht, dass wir das jüdische Volk ausschließlich als Opfer verstehen, sondern, wie es einer unserer Interviewpartner, Isaac Behar, der Gemeindeälteste der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, verstanden wissen wollte, als Mittler zwischen den Generationen. Wir werden den Holocaust als ein grauenhaftes Thema innerhalb der deutschen Geschichte darstellen, zeigen aber auch, was bereits getan wird und was jeder einzelne tun kann, um den Holocaust aufzuarbeiten. Die Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung bedeutet heute auch, sich einerseits mit dem Gedenken zu beschäftigen und den Kampf gegen die Leugnung des Holocaust andererseits zu führen.

Für die deutschstämmigen Juden ist der Holocaust untrennbar mit der eigenen Familiengeschichte verbunden. Welchen Zugang haben russischstämmige Juden der zweiten und dritten Generation zum Holocaust?

Eine besondere Schwierigkeit für die zweite und dritte Generation ist der Umstand, dass das Judentum nicht ausgelebt werden konnte, was ja in den Familien der alteingesessenen deutschen Juden seit Gründung der jüdischen Gemeinden nach 1945 wieder möglich war. Wir erfahren immer wieder von den Migranten aus den ehemaligen Republiken der Sowjetunion, dass man dort sein Jüdischsein nicht leben konnte, dass es explizit verboten wurde und dass es zum Teil noch heute zu Pogromen kommt. Einerseits gibt es ein starkes Interesse der Zugewanderten, gerade auch unter den jüngeren, sich mit Familiengeschichte und jüdischer Geschichte auseinanderzusetzen. Andererseits haben sie, wie ihre nicht-jüdischen Altersgenossen auch, ihre ganz eigenen Themen, die nichts mit dem Judentum zu tun haben. Generell würde ich sagen, dass es bei dieser Bevölkerungsgruppe ein größeres Interesse an der Beschäftigung mit dem Holocaust gibt als bei Nicht-Juden, und das wollen wir natürlich auch fördern.

Um die Integration der russischen Zuwanderer bemühen sich sowohl der Zentralrat als auch die Weltunion für progressive Juden. Nun besteht zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden eine Vereinbarung über staatliche Hilfen, durch die sich die liberalen jüdischen Gemeinden ausgegrenzt sehen. Sie fordern, an den Finanzhilfen beteiligt zu werden, und machen geltend, dass sie für die Ausbildung von Rabbinern, den Aufbau der Gemeinden und insbesondere für die Integration von jüdischen Einwanderern aus Russland eine Menge leisten. Welche Position nehmen Sie in diesem Streit ein?

Sie kennen das Sprichwort, drei Juden, vier Meinungen. Warum sollten wir als Zeitung diese vierte Meinung hinzufügen? Es ist zunächst einmal eine Problematik, die die jüdische Gemeinschaft untereinander diskutieren muss. In erster Linie werden wir als Zeitung versuchen, die unterschiedlichen Meinungen der Beteiligten, also des Zentralrats, der Union, der Chabat-Lubawitsch-Gemeinden und der säkularen Vereine, darzustellen. Wir haben in unserer letzten Ausgabe ein sehr ausführliches Interview mit Paul Spiegel, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, gedruckt und planen für unsere Dezember-Ausgabe ein Gespräch mit Ruth Cohen, der Präsidentin der Weltunion der progressiven Juden. Sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wo die gerichtliche Klärung in Deutschland noch aussteht, in die Auseinandersetzung einzuschalten, wäre nicht produktiv.

Die Jüdische Zeitung erscheint in keinem klassischen Verlagshaus, sondern in einer Holding, die ganz unterschiedliche Branchen integriert. Die Werner Media Group gibt Zeitungen heraus und betreibt zugleich einen Versandhandel mit Non-food-Produkten aus den GUS-Staaten. Was planen Sie als nächstes?

Wir haben gerade unseren ersten Supermarkt mit russischen Waren in Berlin eröffnet und planen eine Reihe weiterer Retro-Märkte in der Hauptstadt. Die Retro-Kette bietet den Geschmack der Nostalgie, die Erinnerung und wendet sich vor allem an die russischsprachige Bevölkerung. Aber Kaviar und Wodka dürften auch für nicht-russische Kunden interessant sein.