Ein Fußbad für die Menge

Vor 60 Jahren stand der Peronismus für Gegenkultur und materielle Anerkennung der Arbeiter und Armen in Argentinien. Heute dominieren Machterhaltung und Klientelismus. von jessica zeller, buenos aires.

Es war furchtbar heiß, und auf der Plaza de Mayo wurden keine Erfrischungsgetränke verkauft. Was lag da näher als seine Füße zur Abkühlung in den Brunnen zu tauchen?« erinnert sich Armando Ponce an den 17. Oktober 1945, der als Geburtstag des Peronismus gilt. Gerade mal 17 Jahre alt und wenig politisiert, lebte er unter miserablen Verhältnissen in einem Vorort im Süden von Buenos Aires. Als ein Gewerkschaftsfunktionär die Bewohner zu einer Demonstration im Zentrum der argentinischen Hauptstadt aufrief, lief Ponce einfach mit.

Seine Schilderung ist 1996 von der alternativen argentinischen Historikerzeitschrift Todo es historia (Alles ist Geschichte) aufgezeichnet worden. Auch ein Foto dokumentiert, wie erschöpfte Menschen, schlecht bis dürftig bekleidet und mit offensichtlich dunklerer Haut und dunkleren Haaren als die reichen Hauptstädter, ihre Füße in dem eleganten Brunnen vor dem Regierungsgebäude »Casa Rosada« baden. Für die argentinische Oligarchie und die bürgerliche Presse war das ein Skandal – bis dato hatte man es stets geschafft, solche Menschen von der Plaza de Mayo zu verjagen oder sogar zu verhaften. Auch viele aus der klassischen Arbeiterbewegung beäugten mit Skepsis und Ablehnung diese lumpenproletarischen Massen, fast 300 000 an der Zahl, die so gar nicht in ihre Welt von Fahnen, Partei und Ordnung zu passen schienen.

»Der 17. Oktober hatte viele Elemente, die man fast als karnevalistisch bezeichnen kann. An diesem Tag betraten die Subjekte des Arbeiters und des Erniedrigten, der gar nichts besaß, die politische Bühne des Landes. Der Tag war aber vor allem Ausdruck ihrer plebejischen Gegenkultur, die sich konkret gegen die Werte und Gebräuche der damaligen Elite wendete und von nun an mit dem Peronismus identifiziert werden sollte«, fasst die argentinische Soziologin Maristella Svampa im Gespräch mit der Jungle World zusammen.

Seit 1930 hatten abwechselnd Militärregierungen und eine durch Wahlbetrug an die Macht gelangte Konservative Partei regiert, die die Interessen der Großgrundbesitzer durchsetzten. Die soziale Unruhe wuchs, die Arbeiter organisierten sich zwar nur in der Minderheit gewerkschaftlich, waren aber durchaus zu Arbeitskämpfen zu ermutigen. Doch die verschiedenen linken Parteien konnten sie nur unzureichend integrieren.

Anders die Militärs, oder zumindest die Gruppe um Juan Domingo Perón. Als sie 1943 die konservative Regierung aus dem Amt putschten, machte Perón sich als neuer Arbeitsminister zum Fürsprecher der Gewerkschaften, er forcierte sozialpolitische Maßnahmen. Perón nahm dabei niemandem etwas weg, verteilte jedoch geringfügig anders. Seinen Kollegen im Militär gefiel diese Politik nicht. Im Oktober 1945 kam es zur entscheidenden Machtprobe. Die Militärs hatten Perón festgenommen. Die nunmehr mitgliederstarken Gewerkschaften riefen zum Generalstreik am 18. Oktober auf und zur Demonstration am Abend davor. Perón sprach als »erster Arbeiter Argentiniens« zu ihnen.

Er wurde freigelasen und im Februar 1946 zum Präsidenten gewählt. Die Opposition, die sich in der Universität, im Bürgertum oder in der Arbeiterbewegung regte, wurde unterdrückt und verfolgt. Auf der anderen Seite konnte Perón das Wirtschaftswachstum nutzen, um der Bevölkerung materielle Wohltaten zu erweisen und die inländische Industrie zu fördern.

Die »Lösung« des Klassenkonflikts durch einen bürokratischen Korporatismus schien fast perfekt. »Der Peronismus ist, wie viele Regierungsformen zur selben Zeit, als Populismus zu verstehen. Populismus ist in diesem Sinne ein spezifisches lateinamerikanisches politisches Phänomen. Europäer neigen oft dazu, den Peronismus bzw. den Populismus als Faschismus zu verstehen, aber er ist es nicht. Er ist eher eine Demokratisierung über einen autoritären Weg, der eine Verbindung herstellt zwischen dem Führer, der in diesem Sinne der Schlüssel des Modells ist, und den organisierten Massen. Als politisches Phänomen ist er deshalb sehr zwiespältig«, meint Maristella Svampa.

1955 putschten die Militärs mit Unterstützung bürgerlicher Kräfte Perón aus dem Amt. Der »Líder« ging ins spanische Exil, hielt jedoch den Kontakt zu seinen Anhängern. Trotz aller Verbote, auch der alljährlichen Demonstration am 17. Oktober, unter den Peronisten seit 1946 als »Tag der Treue« bezeichnet, blieb der Peronismus in Argentinien so lebendig wie zuvor. Verstärkt durch die Abwesenheit und das Taktieren Peróns stellte er sowohl für Linke wie Rechte eine Projektionsfläche dar. 1973 riefen die Militärs schließlich Wahlen aus, und Perón kehrte zurück. Allerdings kam es bereits bei seiner Ankunft zum Debakel: Rechtsperonisten griffen am Flughafen Ezeiza Linksperonisten an, es gab 13 Tote und 200 Verletzte.

»Dieses Schema, auf der einen Seite die festgefahrene Gewerkschaftsbürokratie und auf der anderen die Jugend, die für Veränderung und Revolution steht, produziert einen großen Konflikt. Perón hat die Wahl: Er votiert für die reaktionären Gewerkschaftsteile und entscheidet sich dafür, die Jugendlichen zu bestrafen, die es wiederum nicht wahrhaben wollen, dass Perón ihnen den Rücken zuwendet und keinen revolutionären Kurs einschlägt«, erklärt Svampa. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde also ein Grundstock gelegt für die gewalttätigste Militärdiktatur Argentiniens, die 1976, zwei Jahre nach Peróns Tod, die Macht übernahm. Bis 1983 wurden 30 000 Argentinier ermordet oder sie »verschwanden«.

Doch erst nach 1989 verlor der Peronismus eines seiner ideologischen Wesensmerkmale. Der Peronist Carlos Menem verwandelte Argentinien zehn Jahre lang in ein neoliberales Musterland. Die Arbeiter und »Hemdlosen«, die unter Perón und seiner ersten Frau Evita wenigstens genug zu essen hatten, sind im heutigen Argentinien mit geschrumpfter industrielle Produktion und Arbeiterklasse allein auf die Almosen angewiesen, die ihnen die Peronisten, seit 2002 wieder an der Regierung, über klientelistische, knapp bemessene Sozialpläne zuteilen.

Kulturell und symbolisch orientiert sich die Regierung fast ausschließlich an der städtischen Mittelschicht. Die anti-elitäre populäre Gegenkultur, einst Sinnbild des Peronismus, artikuliert sich heute an anderen Orten: bei den organisierten Arbeitslosen, den Piqueteros. Seit Mitte der neunziger Jahre und insbesondere ab Dezember 2001 haben sie dafür gesorgt, dass die argentinischen Unterschichten wenigstens zeitweise wieder Gehör fanden. Um das zu erreichen, trafen sie sich natürlich auf der Plaza de Mayo. Den Brunnen, in den Ponce damals seine Füße tauchte, haben die Militärs allerdings nach dem Putsch 1955 abgerissen.