Laut, rührend, ungemütlich

Der Dokumentarfilm über »Mutter« ist genauso kompromisslos wie die Band, die er porträtiert. von jörg sundermeier

Man munkelte, er sei heroinabhängig. Oder ein Opfer anderer Drogen. So dünn jedenfalls, da waren sich beinahe alle einig, könne man nicht einfach so sein. Dazu kam die Musik, die Max Müller mit seiner Band Mutter macht. Logo, das waren irgendwelche Junkies. 1993, bei der »Du bist nicht mein Bruder«-Tour, sang Müller, der Hungerhaken, begleitet von einer Band, die aus drei eher fülligen Jungs besteht. Grüner Nebel strömte auf die Bühne, dazu erklang dieser schleppende, schwere, tiefe – wie sollte man es nennen? – »Doom-Core«, wie es damals in der Presse hieß. Art-Metal auch. Max Müller in diesem Nebel, sich in der Hüftgegend knickend, die Hände am Mikro, ein »Munch-Schrei«, dann fiel er auf den Boden, die Band, unbeeindruckt, schob ihren tiefen, ernsten, angeschlagenen Rock weiter durch die Boxen.

Damals erschienen die ungemütlichsten Lieder von Mutter, »Israel« etwa, das die Frage nach Schuld und Unschuld behandelt, vor allem aber nach Unschuldssehnsucht, ein Lied, das für manche an die Grenzen des politisch Erlaubten ging. Eine Jüdische Gemeinde allerdings verwendete den Text des Songs als Motto für ein Buch. Das Stück »Michael« war ebenfalls gerade erschienen, ein Stück für den an Aids verstorbenen, führenden Neonazi Michael Kühnen und eines der bösartigsten Rockstücke überhaupt, es begann mit einem Gitarrenfurioso, das sich jede Nazi-Oi-Band wünschen würde, fiel dann in einen langsamen, man kann sagen, Klagesound zurück, um in der Frage zu kulminieren: »Würdest du, wenn du ein Mann bist, mit mir schlafen?« Woraufhin ein Männerchor antwortete: »Zu spät, zu spät.« War das schwulenfeindlich? War das Kritik an Männerbünden? Zu nahezu allen linken Zeitungen und Magazinen, die das Album feierten, gesellten sich jedenfalls auch die Popredakteure der Jungen Freiheit, die in dem Album viel Bemerkenwertes sahen.

Auf diese Rockorgien, auf ungewöhnliche Alben, die entweder »Ich schäme mich Gedanken zu haben, die andere Menschen in ihrer Würde verletzen« hießen oder »Komm« (die Hälfte dieser Platte bestand nicht aus Songs, sondern lustigen Geschichten in Field-Recording-Qualität), folgte »Hauptsache Musik«, eine geradezu rührenden Schalalala-Platte mit Frauenchören und heiterem Pop, die den weitreichenden, kleinen Ruhm der Band endgültig begründete. Was aber ist diese Band denn nun?

Vorweg muss hier eingeräumt werden, dass der Autor dieser Zeilen die Band auch privat kennt. Das Buch, das Max Müller verfasst hat, hat er verlegt. Doch der Film »Wir waren niemals hier« von Antonia Ganz, um den es an dieser Stelle gehen soll, war auch für ihn neu. Zwar hatte man sich schon daran gewöhnt, dass bei den wenigen Auftritten der Band in den vergangenen Jahren ein Kamerateam dabei war, doch hätte man nicht gedacht, dass ein solch genauer Film herauskommt.

Der Regisseurin, die den Film oft im Alleingang, auch ohne Team drehte, gelingt es, einen dramaturgischen Bogen zu schlagen, sie erzählt nicht nur von den Anfängen der Band, sondern auch von einem ersten Ende.

Die Gruppe Mutter ging aus der Band Camping Sex hervor, deren Album »1914« 1985 erschien, kein Erfolg war und heute äußerst gesucht ist, unter anderem weil Thurston Moore von Sonic Youth diese LP zu den zehn besten Gitarrenplatten aller Zeiten zählt. Im November soll sie erstmals in limitierter Stückzahl erneut erscheinen.

Antonia Ganz hat viele alte Videobänder und sogar Super-8-Filme gesichtet und kann so die beinahe 20jährige Bandgeschichte rekonstruieren. Und Geschichten erzählen. Etwa die aus der Zeit der Namensfindung, als Müllers Mutter glaubte, ihr Sohn sei verzweifelt und suche nach ihr, da er auf Zettel immer wieder das Wort »Mutter« malte. Tatsächlich war er auf der Suche nach dem richtigen Schriftzug. Sein älterer Bruder Wolfgang Müller, der seinerseits mit dem Art-Rock- und Kunst-Trio Die Tödliche Doris gezeigt hatte, was die Neue Deutsche Welle hätte sein können, der das legendäre Geniale-Dilletanten-Festival veranstaltet und auch sonst ein ziemliches Enfant terrible ist, zeigt sich im Film beeindruckt von der Konsequenz, mit der sein jüngerer Bruder zeichnet, schreibt, komponiert und singt.

Doch die anderen Bandmitglieder sind nicht weniger ungewöhnlich. Der Drummer, Florian Koerner von Gustorf, ist einerseits Rockschlagzeuger, spielt andererseits Hauptrollen in Splatterfilmen von Jörg Buttgereit und ist zugleich erfolgreicher Filmproduzent und Bundesfilmpreisträger. Kerl Fieser, der Bassist, der sich, obgleich ein schwerer Mann, gleichsam von seinem Bass spielen lässt, so federt er mit seinem ganzen Körper, hat die »Bauphilosophen« gegründet, eine Baufirma, die unter dem Hegelschen Motto: »Alles Gedachte tritt einmal in seine Wirklichkeit« einen »Schädelturm« in Berlin verwirklichen will. Schließlich Frank Behnke, der damalige Gitarrist der Band, der sich seine filmischen Meriten als Assistent von David Lynch holte, ein Ton- und Schnittmeister, der für Mutter die Gitarre streichelte und quälte.

Der Film nun zeigt den Werdegang des Quartetts, die Mühen, die die Tour nach dem Erscheinen des Albums »Europa gegen Amerika« bereitete, ein Album, das am 10. September 2001 erschien und daher schon seines Titels wegen zur Erfolglosigkeit verurteilt war.

Die Tour ist ebenfalls ein Flop, die Band spielt in einem Saal, der tagsüber, zur Probenzeit, als Restaurant genutzt wird, sodass man nicht laut proben darf. Man darf in dem nämlichen Saal dann später auch nicht laut spielen. Wissen die Veranstalter überhaupt, wen sie sich da gebucht haben? Ein Schweizer Fan allerdings, der sich später im Backstageraum seine CDs signieren lässt, ist verzweifelt, als er erfährt, dass es ein Album von Mutter gibt, dass er noch nicht hat. Fans hat die Band viele – Diedrich Diederichsen, Knarf Rellöm, Rocko Schamoni und Jochen Distelmeyer outen sich als solche. Dennoch spielt die Band meistens vor halbvollen Sälen, und diese spielt sie leer.

Der Film zeigt den Zusammenhalt dieser Band, ihr selbstverständliches Miteinander, das nicht zwangsweise in Freundlichkeit endet. Den Ausstieg des Gitarristen Frank Behnke, den sie »Berti« nennen und der von Anfang an dabei gewesen ist, zeigt dieser Film in aller Härte. »Berti« kann nicht mehr, mag nicht mehr, und die Band mag und kann ihn nicht halten. Diese Szenen, obgleich sie von allen Beteiligten, da sie durchweg mit der Kamera vertraut sind, auch für den Film inszeniert werden – keine zu harten Effekte, kaum Ausbrüche –, sind außerordentlich beeindruckend.

Was man sieht im Film, soll man eben doch nicht sehen, gerade diesen Filmprofis ist das Ergebnis offensichtlich oft peinlich. Antonia Ganz lässt jedoch trotz aller auch emotionalen Nähe zu ihren Protagonisten diese Szenen im Film, denn sie sind wahr. Damit ist der Dokumentarfilm, das Kinodebüt der Regisseurin, genauso kompromisslos wie die Band, die er porträtiert. Er ist eine Ehrung, aber kein Loblied.

Inzwischen hat die Band neue Alben eingespielt, anlässlich des Films erscheint ein »Best of« mit fünf neuen, wieder einmal irritierenden Stücken (unter anderem eines mit dem Titel »Pisse«), »Hauptsache Musik« erscheint in zwei Wochen erstmals als Doppel-LP, ebenfalls mit einem neuen Stück. Die Bandgeschichte also geht weiter. Wie sie bislang verlief, wird im Film wahrhaftig gezeigt.