Mütterchens Stiefkinder

Russland ist ein Land der extremen sozialen Unterschiede, in dem Rassismus und Antisemitismus weit verbreitet sind und Dissidenten vom Geheimdienst drangsaliert werden. von katja grote und kolja lindner

Wer heute, knapp 20 Jahre nach dem Beginn der »Perestrojka« und knapp 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, nach Russland fährt, kann eine allgegenwärtige Misere besichtigen. Vor allem in Moskau sind die sozialen Widersprüche frappierend. Nach Angaben des Wirtschaftsmagazins Forbes leben in der russischen Hauptstadt 33 Dollarmilliardäre, mehr als in jeder anderen Stadt der Welt. Rund 88 000 Russen besitzen ein Millionenvermögen. Für sie wurde Ende September die erste Moskauer »Millionärsmesse« ausgerichtet, deren Besuchern vom Nerz über den Flügel aus Tropenholz bis zur eigenen Insel alles Erdenkliche geboten wurde. Wenn nicht gerade Messe ist, können die »Neurussen« auch die Boutiquen im Kaufhaus GUM am Roten Platz aufsuchen. Das hier Feilgebotene ist auch für einfache europäische Touristen unerschwinglich.

Wo und wie sich das Leben der anderen Moskauer abspielt, begreift man bei einem Spaziergang durch die unscheinbaren Straßen und die endlosen Unterführungen abseits des Zentrums. Halb zerfallene Wohnhäuser, alte Frauen, die die geringfügige Ernte ihres Kleingartens an der Straßenecke verkaufen, Kinder, die in der U-Bahn betteln, Veteranen des Afghanistan-Krieges, die ohne Beine und reichlich mit Orden behängt an das Mitgefühl ihrer Mitmenschen appellieren. Etwa ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, und das teure Leben in der Stadt können sich nur wenige leisten. Zu hoch sind die Mieten, zu teuer ist der Lebensunterhalt. Wer in Moskau Arbeit hat, verdient andererseits im Schnitt zehnmal so viel wie die Menschen in der russischen Provinz. Die Hauptstadt gilt daher gemeinhin als eine andere Welt. »Moskau ist nicht Russland«, sagen viele.

Will man also einen Eindruck von den sozialen Verhältnissen in Russland bekommen, muss man in die Provinz fahren. Beispielsweise nach Krasnodar, unweit des Schwarzen Meeres. Gegensätze prägen auch hier das Stadtbild: Es reicht aus, sich von der modern wirkenden Hauptstraße drei Stationen mit der Tram zu entfernen, um in Wohnvierteln zu stehen, in denen es keine befestigten Straßen gibt, die Häuser von mittelalterlicher Bausubstanz sind und Kinder im Straßendreck spielen.

Doch selbst Krasnodar gilt wegen seiner Lage in der ölreichen Schwarzmeer-Region als wohlhabende Stadt. Ein allgemeingültiges Bild der russischen Verhältnisse bietet daher vielleicht die gut 400 Kilometer südlich von Moskau gelegene Millionenstadt Voronezh, die dritte Station einer Reise zum Thema Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus in Russland, die wir diesen Spätsommer unternommen haben. Hier ist die gesamte Tristesse des postsowjetischen Alltags zu besichtigen, eines Alltags, der für »Schwarze« – nach Aussagen russischer Menschenrechtsgruppen eine allgemeine Bezeichnung für Menschen aus dem Kaukasus oder Zentralasien sowie andere »Fremde« – schlichtweg ein Grauen ist.

Ein sehr großes Problem seien Übergriffe auf ausländische Studierende, erzählt uns eine Bewohnerin des Studentenwohnheims von Voronezh, das rund um die Uhr von einem Sicherheitsdienst bewacht wird. Doch nur selten erfahren die xenophoben Ausschreitungen öffentliche Aufmerksamkeit wie der Mord an einem afrikanischen Studenten in Voronezh zu Beginn des vorigen Jahres; zumeist wird der Rassismus von offiziellen Stellen verharmlost (Jungle World, 38/05).

Elf Menschen sind in Voronezh innerhalb der vergangenen sieben Jahre bei rassistischen Übergriffen getötet worden. Erst am vorletzten Sonntag starb der 18jährige peruanische Student Angelis Hurtado Enrique, nachdem er und seine beiden spanischen Begleiter von etwa 20 jungen Männern mit Knüppeln und Eisenstangen angegriffen worden waren. Auch jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft lediglich wegen »Hooliganismus«, während Spanien seinen Protest eingereicht hat.

Noch geringer ist das Interesse am Antisemitismus in Politik und Alltag. Eine Studie des Moskauer Büros für Menschenrechte belegt für das vergangene Jahr 124 antisemitische Vorfälle. Am häufigsten sind Fälle von Vandalismus, vor allem auf jüdischen Friedhöfen, öffentliche Aktionen oder Demonstrationen sowie Übergriffe und Beleidigungen. Außerdem berichtet die Studie von mindestens 15 antisemitischen Artikeln in der Presse. Die Dunkelziffer und die Zahl der Veröffentlichungen, in denen verklausulierter Judenhass zu finden ist, dürften weit darüber liegen.

Obwohl sich die dokumentierten Aktivitäten auf Moskau konzentrieren und Voronezh eine der zehn Regionen mit der höchsten Anzahl antisemitischer Vorfälle ist, behaupten Betroffene in beiden Städten, die wir besuchen, kein größeres Problem mit Diskriminierungen zu haben.

Dies ist zumindest die erste Reaktion auf unsere Frage nach gegenwärtigem Antisemitismus in Russland, die wir den Jugendlichen der jüdischen Gemeinde in Voronezh und Angehörigen der jüdischen Organisation »Marom« in Moskau stellen. Doch im Laufe unserer Unterhaltung wird deutlich, dass keiner unserer Gesprächspartner in der Öffentlichkeit eine Kippa oder den Davidstern tragen würde. »Das kann man höchstens in einem kleinen Teil in der Moskauer Innenstadt machen. Überall woanders wirst du sofort verprügelt«, räumt Mascha von »Marom« ein.

Jüdisches Leben bleibt in russischen Städten daher weitgehend unsichtbar. In Voronezh gestaltet sich selbst die Suche nach der einzigen Synagoge schwierig. Wir tun gut daran, uns von einer Ortskundigen begleiten zu lassen. Lena führt uns eine Weile durch Seitengassen und Hinterhöfe, bis wir an einem Zaun ankommen, hinter dem sich ein alter Backsteinbau erhebt. Was heute eher nach einer Bauruine als nach einem religiösen Zentrum anmutet, hat nichts mehr zu tun mit dem Prachtbau, der an diesem Ort vor etwas mehr als 100 Jahren errichtet wurde. Das städtische Leben spielt sich weit entfernt ab. Hierher finden nur Eingeweihte.

Die Schätzungen über die Anzahl der heute in Russland lebenden Juden gehen weit auseinander. Bei der letzten Volkszählung gaben 230 000 Personen »jüdisch« als Nationalität an, während Berl Lasar, der oberste Rabbiner Russlands, von einer Zahl von bis zwei Millionen ausgeht. Dazu zählt er alle, die als Kind einer jüdischen Mutter auf die Welt gekommen sind, auch wenn sie selbst davon nichts wissen, christlich getauft sind oder atheistisch leben.

War die Sowjetunion das Land mit der größten jüdischen Bevölkerung überhaupt, sind in den vergangenen 15 Jahren mehr als eine Million Juden in die USA, nach Israel oder nach Westeuropa ausgewandert. Immer noch versuchen jährlich einige tausend, das Land zu verlassen. Doch in Voronezh wird uns auch davon erzählt, dass manche der Auswanderer wieder zurückkämen, weil sie das Elend leid seien, dass sie in ihren neuen Aufenthaltsländern ertragen müssten. Wie viele denn zurückkehren, wollen wir wissen. »Viele. Mittlerweile sind es mehr als die, die weggehen«, versichert uns die Studentin Tanja mit ernstem Blick.

Neben Rassismus und Antisemitismus ist der zunehmende Nationalismus ein großes Thema für die Menschenrechtsgruppen in Moskau, Voronezh und Krasnodar. Hierzulande würden unsere Gesprächspartner schon als »links« gelten, weil sie Nationalismus strikt ablehnen, in Russland aber fällt diese Definition noch schwerer als in Westeuropa. Das liegt zum einen daran, dass die dissidente Jugendkultur, wie sie bereits in der Sowjetunion existierte, vollständig vom postsowjetischen nationalistischen Aufbruch aufgesaugt wurde. Andererseits hat die autoritäre, nationalistische Ideologie mit der Präsidentschaft Wladimir Putins eine neue Dynamik gewonnen und alle maßgeblichen politischen Kräfte erfasst.

Moskau liefert dafür in diesem Spätsommer zahlreiche Beispiele. Neben dem ohnehin im Stadtbild omnipräsenten Militär zeugt die Form des allgegenwärtigen Gedenkens an den Sieg über den Nationalsozialismus von der chauvinistischen Politik des Kremls. Die Erinnerung an die Sowjetzeit mag eine weltpolitische Bedeutung Russlands simulieren, die heute keine Grundlage mehr hat. Doch die Rückbesinnung auf die Vergangenheit ist selektiv. Während die Denkmäler zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gepflegt werden, ist all das, was an die Oktoberrevolution erinnert, fast völlig aus dem Stadtbild verschwunden. Bereits im Jahr 1992 hatte die Moskowiter Stadtversammlung beschlossen, alle auffälligen an Revolutionäre und Parteifunktionäre erinnernden Büsten und Statuen zu schleifen. Sie finden sich heute im Park Skulpturi, gegenüber dem berühmten Gorki-Park. Ihre Anordnung inmitten kitschiger Figuren russischer Dichter und zeitgenössischer Skulpturen von fragwürdigem ästhetischem Wert scheint die Tatsache unterstreichen zu wollen, dass die Sowjetunion auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist.

Ein kreativerer Umgang wird in Moskau mit Monumenten gepflegt, die wegen ihrer Massivität und Publikumswirksamkeit nicht an den Stadtrand verbannt werden können. So verdeckte ein großer roter Stern mit der Aufschrift »60 Jahre Sieg« bei den Feierlichkeiten am 9. Mai dieses Jahres das auf dem Roten Platz gelegene Lenin-Mausoleum. In dessen unmittelbarer Nähe findet während unseres Besuchs eine Gedenkveranstaltung zu dem terroristischen Überfall auf eine Schule im südrussischen Beslan statt, die ebenfalls einen Einblick in die Ausdrucksformen des postsowjetischen Nationalismus gewährt.

Organisiert von der putintreuen und vom Kreml in den vergangenen Monaten aufgebauten Jugendorganisation »Nashi« (»Die Unsrigen«), versammelt sich eine für öffentliche politische Veranstaltungen in Russland beachtliche Menge von mehreren tausend Menschen, begleitet von Ordnern, Polizisten, Militärs, privaten Sicherheitsdiensten und Vertretern der orthodoxen Kirche. Neben der Nationalflagge ist auch die sowjetische Fahne mit Trauerflor zu sehen. Als am Rande der Veranstaltung der rechtsextreme Politiker Wladimir Schirinowski auftaucht, wird er von einer Menge von Autogrammjägern umringt. Von 30 weiteren vergleichbaren Trauerfeiern in anderen Städten berichtet die Moscow Times.

Am Abend desselben Tages erklärt uns Dimitri von der Moskowiter Sektion der Organisation »Youth Human Rights Movement« das Problem, das die »Nashi« für antifaschistisch-demokratische Gruppen darstellen. Die politische Apathie der russischen Bevölkerung aufgreifend, verkörpert diese Organisation einen großen, mit beträchtlichen finanziellen und administrativen Mitteln ausgestatteten, vorgelagerten Staatsapparat, der eine ständig um ihren Erhalt kämpfende sowie personell überalterte Menschenrechtsbewegung nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit zu verdrängen droht.

Während sich der Kreml mit den »Nashi« eine neue Jugendorganisation nach dem Vorbild des sowjetischen Komsomol zu organisieren sucht, werden oppositionelle Gruppen seit Jahren mit Repression überzogen. Besonders deutlich ist dies seit dem 11. September 2001, da auch in Russland Befürworter eines autoritären Staates die Angst vor Terror dazu nutzen, um gegen politisch Andersdenkende vorzugehen. Ein noch im selben Jahr verabschiedetes Sicherheitsgesetz fasst die Terrorismusdefinition so weit, dass im Prinzip jegliche politische Opposition darunter fallen kann. Nach den tatsächlich folgenden Razzien bemühten sich viele russische NGO um einen internationalen Status. Das »Youth Human Rights Movement« beschleunigte damals Gründungen internationaler Sektionen in westeuropäischen Staaten, um sich so abzusichern.

Eine weitere Möglichkeit, politische Kritik zu behindern, hat der Kreml erst jüngst entdeckt. Derzeit wird darüber diskutiert, die Förderung russischer Organisationen durch ausländische Stiftungen grundsätzlich zu verbieten. Für die meisten Menschen- und Bürgerrechtsgruppen wäre ein solches Verbot das Ende. Denn eine staatliche Förderung, wie sie den »Nashi« zuteil wird, haben sie nicht zu erwarten.

Stattdessen interessiert sich der russische Inlandsgeheimdienst FSB für die Menschenrechtsaktivisten. Die 22jährige Nastja aus Voronezh, Mitglied des »Youth Human Rights Movement«, wurde schon häufig angerufen. Unverblümt stellte sich der Anrufer als Mitarbeiter des FSB vor und legte ihr nahe, ihr politisches Engagement einzustellen. Nastja ist nicht die einzige, gegen die sich solche Einschüchterungsversuche richten. Immerhin kann sie diese Zustände gelassen nehmen: »So ist die politische Arbeit in der russischen Demokratie eben.« Nur ihre Eltern machen sich Sorgen. Nastjas wirkliche Wohnadresse kennen auch sie nicht.

Noch härter gehen die staatlichen Autoritäten gegen diejenigen vor, die nicht den Schutz einer größeren Organisation genießen. In Krasnodar treffen wir Angehörige verschiedener anarchistischer Gruppen, die ebenfalls Bekanntschaft mit dem FSB machen mussten. Mehrmonatige Aufenthalte in Gefängnissen sind für sie keine Seltenheit. »Du kannst dir aussuchen, ob sie Waffen oder Drogen bei dir finden«, erzählen sie.

Ähnlich sieht die Lage in Moskau aus. Der Jerry-Rubin-Club galt als Treffpunkt für libertäre Jugendliche. Hier fanden Veranstaltungen statt, wurden Filme gezeigt und Konzerte gegeben. Solche alternative Räume sind rar, und seit kurzem ist auch der Jerry-Rubin-Club keiner mehr. Die Besitzerin, die den Club für Kinder- und Jugendarbeit von der Stadt zur Verfügung gestellt bekommen hatte, wurde von den Behörden dazu gedrängt, die subkulturellen Tätigkeiten einzustellen. Nun findet hier Freizeitgestaltung für Kinder im Grundschulalter statt.