Nehme jede Arbeit, nehme kein Geld

Jobs werden weniger, unbezahlte Praktika gibt es hingegen an jeder Ecke. von werner graf

War es schon schlimm genug, dass junge Menschen beim Berufseinstieg Blut, Schweiß und Tränen lassen mussten, so können sie sich heute nicht einmal mal mehr Pflaster, Deo und Taschentücher von ihrem Lohn kaufen. Denn ein Praktikum zu leisten, bedeutet für viele junge Menschen, sich in der vagen Hoffnung auf eine dauerhafte Anstellung etliche Arbeitsstunden lang ausbeuten zu lassen.

So geht es auch Ulrike Weichert. Sie beendete vor einem Jahr ihr Studium der Psychologie und muss nun umsonst als Praktikantin jobben. »Mit dem bloßen Uni-Abschluss bekommt man heute keine Stelle. Ich will im klinischen Bereich arbeiten: ohne Spezialisierung an einer Privatschule ist das unmöglich.« Um sich zur Psychologischen Psychotherapeutin weiterzubilden, muss sie 1 800 Stunden Praktikum absolvieren; unentgeltlich, versteht sich. »Ich bekomme gerade einmal Essensgutscheine. Hier in Berlin ist das zwar fast schon normal, aber okay ist das nicht.«

Ein Jahr geht sie Tag für Tag arbeiten, um doch nur von Hartz IV zu leben. Dabei war Ulrike richtig gut in der Universität, ihr Studium schloss sie mit einer Eins ab. Sie teilt das gleiche Schicksal mit über 100 anderen Studenten ihres Jahrgangs in Berlin, die sich ebenfalls zum Psychologischen Psychotherapeuten ausbilden lassen. Hochgerechnet sind dies 180 000 Stunden kostenloser Arbeitszeit – nur in Berlin, nur bei dieser einen Weiterbildung. Insgesamt verlassen 200 000 Studenten jährlich die deutschen Universitäten. Kaum auszumalen, wie viel die Unternehmen an ihnen verdienen.

Über die Zahl der Praktikanten in Deutschland ist nur wenig bekannt. Eine Erhebung der Bundesagentur für Arbeit zeigt, dass im Juni 1999 etwa 3 600 der bei der Agentur registrierten Hochschulabsolventen ein Praktikum begannen. Im September 2004 waren es bereits 8 693. Doch sind bei weitem nicht alle Absolventen registriert, weshalb aus den Zahlen nur eine Tendenz ablesbar ist.

Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Größe: Das »Betriebspanel 2003«, eine repräsentative Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, zählte in Westdeutschland 625 000 und in Ostdeutschland 173 000 »Praktikanten/Aushilfen«. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutete dies eine Steigerung um knapp 20 Prozent. Dazu kommen 25 000 so genannte Einstiegsqualifizierungen, geschaffen mit dem »Ausbildungspakt 2005«. Was so bedeutungsvoll daherkommt, ist nichts weiter als ein Trick für die Statistik: Im Unterschied zu unbezahlten Praktikanten werden die Teilnehmer der »Einstiegsqualifizierungen« nicht mehr als »ausbildungsplatzsuchend« gezählt.

»Verlässliche Daten zum Thema Praktikum gibt es noch nicht«, bestätigt auch Jessica Heyser, die politische Referentin der DGB-Jugend. »Wir merken nur, dass sich immer mehr Hochschulabsolventen bei uns melden.« War es früher vorwiegend die Medienbranche, in der junge Leute ohne Lohn beschäftigt wurden, weitet sich das Phänomen auf viele andere Berufe aus. »Besonders betroffen sind BWLer, Juristen und Architekten«, weiß Jessica Heyser.

Um den Problemen auf den Grund zu gehen, führt die DGB-Jugend gemeinsam mit Berliner Studenten derzeit eine eigene Studie durch. Anhand der letzten drei Abschlussjahrgänge der Freien Universität Berlin wollen sie herausfinden, wie viele Absolventen direkt nach dem Studium ein Praktikum beginnen und wie viele zwei oder drei Jahre nach dem Abschluss immer noch als Praktikanten tätig sind. Die Studie soll klären, ob es wirklich eine floundering period gibt und wie lange sie dauert. So nämlich bezeichnet die Betriebswirtschaftslehre jene Phase, in der man wie eine »Flunder zappelnd« von Praktikum zu Praktikum eilt, viel und hart arbeitet, aber kein Geld verdient.

Der Unmut über die »Ausbeutung junger Menschen«, wie es Jessica Heyser nennt, wächst. Die DGB-Jugend unterstützt im Moment acht Personen, die gegen ihre ehemaligen Arbeitgeber klagen. Eine hatte schon Erfolg und bekam das Gehalt einer halben Stelle ausgezahlt.

Mit der Kampagne »students@work« will die Gewerkschaftsjugend vor allem Studenten, aber auch Betriebsräte, die bislang Praktikanten meist vernachlässigt haben, aufklären und beraten. Ferner fordert sie einen gesetzlichen Mindestlohn: 300 Euro pro Monat für noch nicht ausgebildete Praktikanten, 600 Euro für Ausgebildete und 800 Euro für alle, deren Praktikum länger als drei Monate dauert.

Dass dieser Mindestlohn jemals Realität wird, kann sich Ulrike Weichert allerdings kaum vorstellen. »Es gibt das Interesse, dass es so läuft, wie es läuft. Die Arbeitgeber bekommen kostenlose hochqualifizierte Arbeitskräfte. Warum sollten sie dies ändern?«

Ganz genauso sieht es die Unternehmensberatung namens »Simplify Your Business«. In ihrem »Chefletter« schreibt sie: »In allen Unternehmen gibt es gelegentlich Projekte, für die Sie (…) zu wenig Zeit haben. Die Lösung: Sie stellen einen Praktikanten ein. Kandidaten gibt es genügend.« Und das stimmt ja auch. Die »Kienbaum-Praktikantenstudie 2003« hat herausgefunden, dass in einem Unternehmen in Deutschland in einem Jahr 20 000 Praktikumsbewerbungen eingehen – im Gesamtdurchschnitt wohlgemerkt, denn befragt wurden Großkonzerne wie kleine Handwerksbetriebe.

Einige Firmen sehen aber, dass die ausbeuterischen Praktika nicht nur Vorteile bringen. So startete das Magazin Karriere die Kampagne »Faircompany«. Im Aufruf heißt es, dass unbezahlte Praktika »ambitionierte und talentierte Nachwuchskräfte, darunter auch die Fach- und Führungskräfte von morgen«, immens verunsicherten. »Investitionen in Humanvermögen unterbleiben, junge Talente werden über Jahre hinweg nicht entsprechend gefördert«, beklagt die Kampagne, die sich dafür ausspricht, dass Praktika keine Vollzeitstellen ersetzen, Hochschulabsolventen nicht mit einem vermeintlich festen Job geködert und allen Praktikanten adäquate Aufwandsentschädigungen gezahlt werden sollen. Bisher haben sich gerade einmal 219 Firmen der Kampagne angeschlossen.

Wenn selbst einige Unternehmen unbezahlte Praktika als problematisch zu erachten beginnen, müsste auch von den Praktikanten etwas zu hören sein. Zwar gründeten einige Berliner Praktikanten den Verein Fair Work, doch wirklich schlagkräftig scheint dieser nicht zu sein. Das liegt auch in der Natur der Sache: Sobald jemand einen festen Job gefunden hat, hat er eigentlich keine Veranlassung, sich für Praktikanten einzusetzen. Und gerichtlich zu klagen, trauen sich die wenigsten. Auch Ulrike will nicht gegen ihren Arbeitgeber vorgehen. Schließlich hofft sie, irgendwann eine feste Stelle zu ergattern.