Zorn in den Bergen

Das Versagen des Staates bei der Katastrophenhilfe nach dem Erdbeben in Pakistan schwächt die Position Präsident Musharrafs. Islamistische Organisationen versuchen, das zu nutzen. von jörn schulz

Die Freiwilligen für die Arbeit in den Erdbebengebieten sollten »18 Jahre oder älter, enthusiastisch, bei guter Gesundheit und physisch in der Lage sein, in bergigem Terrain zu laufen«. Das Joint Action Committee sucht jedoch auch Helfer für die Pflege von Verletzten, die nach Islamabad transportiert wurden, sammelt Hilfsgüter und organisiert ihre Auslieferung. Die Koalition von Einzelpersonen und NGO koordiniert über ihre Webseite einen Teil der nicht staatlichen Hilfsanstrengungen.

Das Erdbeben vom 8. Oktober führte zu einer in der pakistanischen Geschichte wohl beispiellosen gesellschaftlichen Mobilisierung. Islamische Wohlfahrtsgruppen, säkulare NGO, Unternehmen, Gewerkschaften, politische Organisationen und Privatpersonen beteiligten sich an den Rettungsarbeiten und der Versorgung der Überlebenden. Häufig waren sie die ersten und nicht selten die einzigen, die in entlegenen Dörfern und den Armenvierteln der Städte auftauchten.

An Staatsbediensteten, die 18 Jahre oder älter und in der Lage sind, in bergigem Terrain zu laufen, herrscht in Pakistan eigentlich kein Mangel. Doch von den mehr als 600 000 Soldaten der Armee und den über 200 000 Angehörigen der paramilitärischen Nationalgarde und des Grenzkorps war in den ersten Tagen wenig zu sehen. Eine Woche nach dem Beben waren nach Angaben der Regierung 40 000 Soldaten als Katastrophenhelfer im Einsatz.

Überall im Erdbebengebiet kritisierten die Überlebenden die langsamen und unzureichenden Hilfsmaßnahmen der Regierung. Präsident Pervez Musharraf sah sich zu einer Rechtfertigung gezwungen. »Ich bin sehr traurig darüber, dass einige Leute mehrere Tage warten mussten, bevor die Hilfe sie erreichte«, bekannte er. »Die Tragödie ist viel größer als die Kapazität und Leistungsfähigkeit der Regierung.« Dass die Regierung mit der Bewältigung der Erdbebenfolgen hoffnungslos überfordert ist, liegt jedoch nicht zuletzt an den Prioritäten, die Musharraf gesetzt hat.

Selbst Organisationen wie die Weltbank und USAid werten den erbärmlichen Zustand des öffentlichen Sektors in Pakistan als Entwicklungshemmnis. Beim Erdbeben hat er viele Menschen das Leben gekostet. Etwa die Hälfte der fast 40 000 Todesopfer sind Kinder. Fast alle öffentlichen Schulen im Katastrophengebiet stürzten zusammen, viele der solider gebauten Privatschulen dagegen hielten dem Erdbeben stand.

Im Haushaltsjahr 2005/2006 hat das Finanzministerium für den Posten »General Public Service«, hinter dem sich überwiegend die Personalkosten des Staatsapparats und die Schuldenrückzahlung verbergen, 61 Prozent des Budgets vorgesehen. Das Militär erhält 27 Prozent, während für »other services« wie Gesundheit und Bildung zusammen nur fünf Prozent zu Verfügung stehen. Für das Gesundheitswesen will die Regierung umgerechnet etwa 57 Millionen Euro ausgeben, etwa 35 Cent pro Kopf der Bevölkerung.

Schon in normalen Zeiten sind die meisten Pakistanis auf Almosen angewiesen, wenn sie medizinische Versorgung benötigen. Diese Almosen werden offenbar recht großzügig vergeben, eine Untersuchung des Aga Khan Development Network schätzte die für private Sozialhilfe aufgewendete Summe im Jahr 2000 auf mehr als eine Milliarde Dollar. Ein großer Teil wird von islamischen Stiftungen und Moscheen verteilt.

Die Motive der nicht staatlichen Helfer sind nicht immer rein humanitär. Für Geschäftsleute, Großgrundbesitzer und andere Angehörige der Oligarchie ist die Wohltätigkeit eine soziale Verpflichtung, der sich zu entziehen sie ihr Ansehen in der Community kosten würde. Doch Almosen schaffen auch Abhängigkeiten, sie legitimieren und festigen eine soziale Hierarchie, die vor allem in den ländlichen Gebieten noch halbfeudalen Charakter hat. Wichtige Repräsentanten der pakistanischen Oligarchie hatten in den vergangenen Jahren Differenzen mit Musharraf, doch die meisten Geschäftsleute und Großgrundbesitzer unterstützen sein autoritäres Regime. Gefährlicher für den Präsidenten könnten die Islamisten werden, deren Hilfsorganisationen besonders effektiv arbeiten.

Die Jamaat-e-Islami (JI) schickte sofort nach dem Beben die Kader ihrer Hilfsorganisation al-Khidmat in das Katastrophengebiet. Auf ihrer Webseite versäumen es die Islamisten nicht, darauf hinzuweisen, dass »nur die Leute der JI entlegene Gebiete erreicht« hätten und »die Hilfscamps der Armee nur in den entwickelten Gebieten der betroffenen Region errichtet« worden seien.

Am Tag vor dem Beben war es von Musharraf unterstützten Kandidaten gelungen, bei der Besetzung lokaler Behörden durch indirekte Wahlen die Islamisten an vielen Orten aus ihren Positionen zu verdrängen. Nicht nur die im Parteienbündnis MMA zusammengeschlossenen sechs islamistischen Parteien kritisierten, dass das Regime die Wahlen manipuliert habe. Das Versagen in der Katastrophenhilfe nach diesem gelungenen Coup dürfte Musharrafs Image nicht zuträglich sein.

Seit 2002 propagieren die Islamisten verstärkt sozialpopulistische Parolen, und nun haben sie eine Chance, ihre Effizienz zu beweisen und sich als Alternative zum Militärregime zu präsentieren. Der JI-Führer Qazi Hussain Ahmad forderte, die Leitung der Hilfsoperationen dem vom Militär dominierten Nationalen Sicherheitsrat zu entziehen und einem zivilen Gremium zu übergeben.

Er nutzte die Gelegenheit aber auch für eine verwegene Interpretation des Geschehens, bezeichnete das Erdbeben als »schweren Verweis von Gott« und forderte die Bevölkerung auf, »Vergebung für ihre Sünden« zu erbitten und »die Praktiken zu beenden, die gegen Gottes Gebote verstoßen und Seine Wut heraufbeschwören«. Dazu zählt er »die Ausplünderung des Volkes durch ungerechte Steuern und Preiserhöhungen« ebenso wie sündhafte Vergnügungen: »Musik- und Tanzshows werden unter der Schirmherrschaft der Regierung veranstaltet, der Präsident selbst tanzt und erregt so den himmlischen Zorn.«

Dass die am stärksten vom Erdbeben betroffenen Gebiete, der pakistanische Teil Kaschmirs und die North West Frontier Province, neben dem Zentralirak die wichtigsten Basen islamistischer Terrororganisationen sind, würde allerdings eigentlich eine andere religiöse Interpretation nahe legen. Die am Montag der vergangenen Woche veröffentlichte Schuldzuweisung an den tanzenden Präsidenten wurde nicht wiederholt, möglicherweise erwies sie sich in der derzeitigen Situation als unpopulär.

Obwohl sich nach dem Beben mehr denn je die Erkenntnis aufdrängt, dass Pakistan sich seinen kostspieligen Militärapparat samt Atomstreitmacht nicht leisten kann und ohne einen Ausbau des Bildungs- und Gesundheitswesens keine Entwicklungspolitik möglich ist, sind solche Argumente in der öffentlichen Debatte des Landes kaum zu hören. Für einen Präsidenten, der die fortdauernde Militärherrschaft immer wieder mit der Behauptung gerechtfertigt hat, die Armee sei die effektivste Organisation des Landes, bringt das Versagen in der Katastrophenhilfe zumindest einen Legitimationsverlust mit sich. Davon könnten jedoch eben jene Kräfte profitieren, denen bereits Musharrafs vorsichtige Deeskalationspolitik gegenüber Indien als Verrat gilt und die das Almosenwesen und die Koranschulen einer gesellschaftlichen Modernisierung vorziehen.