Außen und unten

Die französische Unterschicht zwischen Segregation und Integration. von jochen becker

Satellitenstädte heißen die Großsiedlungen nicht etwa, weil überall TV-Schüsseln für internationales Programm sorgten, sondern weil sie die Metropolen weiträumig umkreisen. Und manchmal funkt so ein künstlicher Planet auf. Dann gibt es Sendeminuten zur Primetime für die ansonsten Schwarzen Löcher im bürgerlichen Kosmos. Ähnlich wie in Berlin-Kreuzberg wird der eigene Kiez zum Schlachtfeld.

Dies passiert nicht zum ersten Mal, doch nun werden die Aufstände sichtbarer. Jahrelanges Schleifenlassen rächt sich, wenn es rund um die Hauptstadt, aber auch in Rouen, Dijon, Marseille, Lille, Toulouse, Rennes, Strasbourg oder Nantes brennt. Mittlerweile erreicht der Protest der classe populaire sogar das Zentrum von Paris.

Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland ähnlich hoch wie in Frankreich. Und auch die Arbeitslosenquote Neuköllner Kanaken steht der in den Banlieues in nichts nach. Was also ist los in Frankreich?

Die Revoltierenden mit französischem Pass nennen die Mehrheitsgesellschaft »Franzosen«. Sie selbst meinen nicht sich damit, weil sie nie damit gemeint waren. Zuerst gab es den Ausschluss durch das offizielle Frankreich, dann folgte die eigene Abschottung. Dies spiegelt sich bei der Selbstethnisierung, dem Bezug auf eine vermeintliche arabische oder afrikanische Herkunft, aber auch in der räumlichen wider: Die »Abtrennung und Verselbständigung ganzer Viertel und Gemeinden, Zonen eigenen Rechts«, wie sie der Spiegel beschreibt, ist Folge einer unaufgehobenen kolonialen Apartheid.

Fotos des Soziologen Pierre Bourdieu dokumentieren die Vertreibungspolitik der Kolonialmacht in Algerien, die Dörfer und die lokale Landwirtschaft zerstörte und die so zu Arbeitslosen Gemachten in die algerischen Städte trieb. Der Sprung übers Mittelmeer in die Fabriken Frankreichs brachte die nordafrikanischen Zuwanderer in Arbeit. Viele hausten in Hüttensiedlungen am Rande der französischen Städte.

Der Schriftsteller und Soziologe Azouz Begag ist seit Mai »Minister für die Förderung von Chancengleichheit«. Sein autobiografisches Kinderbuch »Azouz, der Junge vom Stadtrand« erzählt von der Misere einer Bretterbudensiedlung in einem arabischen Bidonville bei Lyon, während die französischen Mitschüler in festen Häusern mit fließendem Wasser, Elektrizität und Fernsehen wohnten. Insofern waren die neu gebauten Großsiedlungen im Umkreise der Metropolen ein Segen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Frankreichs Banlieues drei Viertel des städtischen Wachstums aufgenommen. Mittlerweile leben in ihren 3 000 Kommunen knapp 19 Millionen Menschen.

»Den Jugendlichen in den Banlieues muss keiner erklären, dass sie in der Innenstadt nichts verloren haben. Das wissen sie seit Jahrzehnten. Wo immer sie hingehen, taucht die Polizei auf. Für Weiße ist die Staatsgewalt unsichtbar, für Farbige allgegenwärtig«, schreibt der französische Schriftsteller Alex Capus. Viele Einwandererkinder fühlten sich wie »Franzosen der dritten oder vierten Klasse«, sagt die Politikstudentin Sihame bei einer Audienz des Premierministers Dominique de Villepin. Hier wird kontrolliert und schikaniert, wer auffällig erscheint, und das heißt: jung, männlich, arabisch-afrikanisch, auf der Straße.

Frankreich spaltet sich in drei Teile – das globalisierte Milieu der Entscheider, die Mittelschichten sowie die classes populaires. Die gesellschaftliche Realität der jeweils anderen bleibt medial vermittelt. Nur die Elterngeneration der Unterschicht, die in der Dienstleistungsbranche arbeitet, gerät noch in die Lebenswelten des offiziellen Frankreich. Umgekehrt tauchen allenfalls ausgebrannte Sozialarbeiter, schikanierende Polizisten oder genervtes Lehrpersonal in den Armutsgürteln der Metropolen auf. Die öffentlichen Verkehrsverbindungen sind schlecht, und die um Paris herum führende Stadtautobahn mit Gewerbebesatz, Fabrikgeländen und Kanälen bildet eine neue Stadtmauer, inklusive der Stadttore, der Portes, die jede Metrolinie passiert. »Peripherique« heißt die mehrspurige Barriere, die das Umland von der »eigentlichen« Stadt trennt.

Wer kann, zieht aus den Vorstädten weg. Doch viele können nicht. Im Jahr 1982 wurden 22 »sensiblen urbanen Zonen« Förderungsprogramme zuteil, im Jahr 2002 ist die Zahl auf 750 gestiegen, 1 500 Sozialbausiedlungen gelten als besonders »schwierig«. Die Industrie der Massenbeschäftigung und ihre zwangvolle Integration ist weggebrochen. Vormals »rote Gürtel« der Arbeiterschaft haben sich zu Warteräumen ihrer arbeitslosen Nachfahren gewandelt. Hier bilden sich Rostgürtel, in denen nicht nur die Industrie vor sich hin rottet. Jahrelange, generationsübergreifende Arbeitslosigkeit hat den Stamm der ausgebildeten Facharbeiter abschmelzen lassen. Hier wird sich so schnell keine neue Industrie mehr ansiedeln.

In den achtziger Jahren wurden Rufe nach Gebetsräumen laut, aber auch die Forderungen der Beurs-Bewegung, der Nachkommen der Einwanderer, die ebenfalls mit Randale begann, sich aber zunehmend politisierte. Die Linke der Innenstadt unterstützte dies sporadisch oder versuchte, die Köpfe der Bewegung zu vereinnahmen. Bewegung, Verhandlungsmacht und Forderungskataloge sind nunmehr erschöpft. Jetzt agieren frustrierte Randale und ein politisch anleitender Islam, was jedoch auch weiterhin kaum miteinander verkoppelt scheint.

Der Soziologe Dietmar Loch warnt in seiner Studie zu Jugendlichen maghrebinischer Herkunft, die banlieuesards in kaschierende »Programme« abzuschieben, wo sie nur ihre Zeit verlören. Die Armutsbevölkerung ist von Bildung und Karriere im formellen Sektor weitestgehend ausgeschlossen und durch die Adresse, den Nachnamen, die Hautfarbe stigmatisiert. Karriere und Geld muss man sich anderweitig organisieren: Durchschlagen, Verchecken, Musik, Sport. Im Dokumentarfilm »De l’autre côté du Périph’« haben Nils und Bertrand Tavernier bereits im Jahr 1997 informelle Selbstorganisation in den Blocks, Kleinkriminalität, aber auch solidarische Notökonomie aufgezeigt. »Der Staat ist sich unsicher, wie er auf die Macht der muslimischen Vereinigungen reagieren soll, die in den trostlosesten Vierteln längst Aufgaben der öffentlichen Wohlfahrt übernommen haben, angefangen bei der Hausaufgabenhilfe über Krankenbesuche bis hin zur Unterstützung bei Behördengängen«, beschreibt die FAZ eine neue informelle Sozialpolitik. Jenseits der mittelschichtsorientierten Normalität stellt sich die Frage der »Integration« ganz neu. Die Informalisierung gesellschaftlicher wie ökonomischer Strukturen bietet Abhilfe und ist zugleich ein Ausdruck neoliberaler Politik – und kann letztlich zur weiteren Segregation und Isolation führen.