Malerisch nur aus der Ferne

In Ceuta warten die Immigranten auf die Entscheidung, ob sie innerhalb der EU bleiben dürfen. Willkommen sind sie nicht in der Stadt. von alfred hackensberger, ceuta

Mit Maschinenpistolen im Anschlag patrouilliert die »Legion« entlang der rund zehn Kilometer langen Grenze von Ceuta. Auch am Übergang ins marokkanische Bel Younech, wo in den Wäldern die Camps der Immigranten lagen, stehen Soldaten der Elitetruppe des spanischen Militärs. Auf den ersten Blick wirken sie belustigend, mit ihren sonderbaren Hüten auf dem Kopf, die an Crocodile Dundee und den australischen Busch erinnern. Doch die Soldaten verstehen wenig Spaß. »Verschwinden Sie, das ist militärisches Sperrgebiet«, ruft man uns zu. »Fotografieren verboten.« Wir fahren den Hügel hoch, von dem man den Grenzübergang sehen und dem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun etwas näher kommen kann. Von oben kann man die ganze Bucht überblicken, die fast malerisch wirkt, gäbe es da nicht das Militär und den Eisenzaun im Wasser. Gut 100 Meter reicht er ins Meer hinein und soll Flüchtlinge davon abhalten, schwimmend das Terrain der spanische Enklave Ceuta zu erreichen.

Auf dem Hügel dauert es keine fünf Minuten, bis die Guardia Civil mit Blaulicht angerast kommt. Fahrzeugpapiere, Ausweis, die übliche Polizeikontrolle mit den üblichen Fragen. Auch Wochen nach dem Sturm des Zauns, bei dem drei Immigranten getötet und Hunderte verletzt wurden, ist die Lage an der Grenze nach wie vor gespannt. »Haben wir etwas verbrochen?« fragt Javier, mit dem ich unterwegs bin, äußerst gereizt und zeigt nur unwillig den freundlichen, aber sehr bestimmten Beamten seine Papiere. Javier ist seit zwei Jahren Lehrer an einer Grundschule in Ceuta und kann das konservative Ambiente der Stadt kaum noch ertragen.

In den 31 Restaurants, 54 Cafés und 20 Pubs von Ceuta sind die »Neger« immer wieder das Gesprächsthema, bei dem niemand ein Blatt vor den Mund nimmt. »Selbst Beamte der Stadtverwaltung«, erzählt Javier, der ursprünglich aus Madrid stammt, »sprechen ganz offen von den ›Negern‹, die nicht ins Stadtbild passen, und davon, dass die Schwarzen keine Menschen sind.« Die Leute hätten Angst, von einer »Welle aus Afrika« überrollt zu werden. Für die meisten Spanier in Ceuta seien Immigranten und Marokkaner Menschen zweiter Klasse, mit denen man besser nichts zu tun habe. »Klar, Fremdenfeindlichkeit, Xenophobie muss man das schon nennen«, sagt Javier. Eine Meinung, mit der man in Ceuta Schwierigkeiten bekommen kann.

Maria Antonia Granados, die Leiterin des ärztlichen Notdienstes, die den Erste-Hilfe-Einsatz für die beim Grenzsturm verletzten Flüchtlinge organisiert hatte, traf ein ganz ähnliches Urteil über Ceuta und seine Bewohner. Im Interview mit einem kleinen Radiosender vom Festland sprach sie von einer »intoleranten Stadt« und davon, dass ihr »schlecht werden« würde, wenn sie die Leute in den Bars so abwertend über die Schwarzen reden höre. »Verschwinde aus Ceuta«, betitelte daraufhin die Chefredakteurin von El Faro höchstpersönlich einen ganzseitigen Artikel. Der Lokalzeitung war eine Aufnahme des Interviews anonym zugespielt worden. In den folgenden Tagen bestätigten zahlreiche Leserbriefe die Aussage der Chefredakteurin. Die »Nestbeschmutzerin«, die die Stadt und ihre Bewohner »beleidigt« habe, dürfe »keine Minute länger« bleiben, hieß es. Granados wurde noch am selben Tag, an dem der Artikel erschien, fristlos beurlaubt – vom Gouverneur von Ceuta, dem Vertreter der sozialdemokratischen Regierung in Madrid, was vielleicht der eigentliche Skandal ist.

Mein Begleiter Javier war einer der wenigen, der mit einem Leserbrief öffentlich für die Leiterin des ärztlichen Notdienstes Stellung bezog. Dafür musste er sich einige Anfeindungen von Kollegen in der Schule anhören. »Mich als Lehrer und Beamten können sie nicht so einfach kündigen«, meint er schmunzelnd. »Das ist alles eine einzige Heuchelei. Stellen Sie sich vor, fast jede spanische Familie in Ceuta hält sich für billiges Geld eine marokkanische Haushaltshilfe. Illegale Arbeiter aus Marokko werden in Firmen und Geschäften beschäftigt. Die Stadt wird vom Festland subventioniert, lebt vom Schmuggel nach Marokko, und die Menschen bekommen ein höheres Gehalt als der Rest von Spanien.«

Tag für Tag kann man an den Grenzübergängen die langen Schlangen der Mädchen und Frauen beobachten, die nach Ceuta zum Arbeiten gehen. Die Haushaltshilfen, die 200 oder 300 Euro im Monat bekommen, stammen aus der nahe gelegenen marokkanischen Stadt Tetouan, deren Bewohner für einen Tagesbesuch keine Visa brauchen. Ein ähnliches Abkommen gibt es mit Nador, der Nachbarstadt von Melilla. Jedes Jahr erhält Ceuta 1 134 214 Tonnen an Konsumgütern vom spanischen Festland. 80 Prozent davon landen in Marokko, dank der hohen Gewinnspannen beim Schmuggel, der von den marokkanischen Behörden toleriert wird. 12 Prozent des gesamten Wohlstands der Stadt beruht auf diesem Geschäft.

Im Jahr 2010 wird es mit dem lukrativen Schmuggel von Konsumgütern jedoch vorbei sein. Dann wird die europäisch-mediterrane Freihandelszone eingerichtet, zu der auch Marokko zählen wird. In Ceuta sieht man diesem Datum mit Besorgnis entgegen. Aber dann bleibt ja immer noch der Handel mit Haschisch, wofür die Exklave das Portal zu Spanien und Europa ist. Das gilt auch für die zweite Exklave Melilla, die nicht nur ein Umschlagplatz für Cannabis, sondern auch für alle anderen illegalen Drogen ist. Kokain aus Südamerika oder Heroin aus der Türkei wird von der ganz im Nordosten von Marokko gelegenen Stadt schon lange im großen Rahmen nach Europa und in den Mittleren Osten weitertransportiert.

Für die Ceutis gibt es 50 Prozent Bonus bei der jährlichen Einkommenssteuererklärung, ein Nachlass, der auch für Firmen gilt. Die Beamten bekommen etwa 40 Prozent mehr Lohn. »Ich profitiere natürlich auch davon«, sagt Javier. »Bei mir sind das 900 Euro mehr. Das ist ein ganz schöner Batzen.« Die Hälfte aller Jobs befindet sich im öffentlichen Sektor, ein großer Teil davon betrifft militärische Aufgaben. Dem Militär gehören etwa 50 Prozent der 18,5 Quadratkilometer großen Gesamtfläche der Stadt. 5 000 Menschen arbeiten für das Militär.

Ceuta hat knapp 76 000 Einwohner. 50 Prozent sind Christen, 47 Prozent Moslems. Die Christen haben 90 Prozent der Jobs im öffentlichen Sektor inne. 12 000 Menschen vor allem islamischen Glaubens drängen sich in kleinen Wohnungen des Viertels Principe, mit hoher Kriminalitäts- und Arbeitslosenrate. »Eine Problemzone der Stadt, in der kein Spanier nachts unterwegs ist«, meint Javier. »Auch tagsüber kann es gefährlich werden.« Zum Volkssport der Jugendlichen gehört es dort, Polizeiautos mit Steinen zu bewerfen.

Auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stehen die Immigranten, auf die selbst die Marokkaner hinabblicken. Man hat wenig Verständnis für »los negros« und deren Traum vom goldenen Europa, wo Jobs und Geld förmlich auf der Straße wachsen. Schließlich weiß man aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass das nicht der Realität entspricht. Die Naivität der meisten Immigranten wird müde belächelt.

Vor dem Haus des »Cruz Blanca« in Ceuta stehen Immigranten in der Sonne und vertreiben sich schwatzend die Zeit. Man habe nichts Besseres zu tun, sagt Patrick von der Côte d’Ivoire. »Warten, warten«, meint ein Landsmann, der gelangweilt neben ihm steht. »Die Stadt ist nicht groß und alles ist teuer. Man kann sehr wenig machen.« Außerdem seien die Ceutis nicht gerade freundlich zu ihnen. »Manche machen blöde Witze: Na, wo sind eure Papiere? oder: Bald geht’s wieder zurück, dorthin, wo ihr hingehört, und lachen dann.«

Beide gehören zu den Immigranten, die vor einem Monat über den Zaun kletterten. In ein paar Tagen sollen sie Bescheid bekommen, was mit ihnen passiert. Sie zeigen mir ihre vorläufigen Ausweise. Ein Blatt Papier mit Namen, Foto, Stempel und einem Datum, an dem ihnen ihr Status mitgeteilt werden soll: Deportation oder Duldung als Flüchtling. »Das zehrt an den Nerven«, sagt William, den ich schon vor ein paar Wochen, direkt nach seiner Zaunüberquerung, gesprochen hatte. (Jungle World, 21/05) Er hat den Schock der Ereignisse überwunden. »Hier in Europa, was für ein Glück.« Vor einigen Tagen habe er endlich seinen Großvater und auch seine Schwester erreicht, erzählt er freudestrahlend. »Sie sind stolz auf mich.«

Beim letzten Mal hatte mir William noch eine andere Geschichte erzählt. Die gesamte Familie sei umgekommen, er sei völlig allein, ohne einen einzigen Angehörigen. Man kann ihm nicht verdenken, dass er im Überschwang der Gefühle seine Legende vergessen hat, die er für die Anerkennung als Flüchtling braucht. Aber er musste ohnehin, wie alle anderen auch, nicht viel bei der Befragung der Behörden erzählen. »Die dauerte vielleicht fünf Minuten.« Namen, Nationalität, Grund der illegalen Einreise, mehr sei da nicht gewesen. »Dann bekamen wir unser Papier.« Dass einige hundert Immigranten zurück nach Marokko deportiert wurden, habe man gehört, aber »das macht man hier in Ceuta nicht«, sagt William zuversichtlich. Alle anderen nicken zustimmend. Man will sich offensichtlich nicht die gute Laune verderben, nachdem man oft Jahre unterwegs gewesen ist und nunmehr plötzlich der ganze Aufwand, die Risiken, die man auf sich genommen hat, vielleicht umsonst gewesen sind.

Für Keny aus dem Senegal wäre eine Deportation besonders schlimm. Sechs Jahre verbrachte er in den Wäldern nahe der spanischen Grenze. »Zehn oder 15 Mal haben sie mich verhaftet und nach Algerien gebracht, aber ich bin immer wieder zurück.« Am Ende habe ihm ein Marokkaner in Bel Younech geholfen. »Er gab mir eine Schwimmweste.« Mehrere Stunden habe es gedauert, die Eisengitter im Wasser zu umschwimmen und wieder den Weg zur Küste zu finden. »Vier Tage habe ich noch vor Kälte gezittert«, sagt der 28jährige. »Jetzt wieder zurück nach Marokko zu müssen, das wäre ein Desaster. Aber so oder so, ich würde wieder zurückkommen.« Keny setzt seine verspiegelte Ray-Ban-Brille auf und sagt, er müsse jetzt los in die Stadt. »Ein paar Dinge einkaufen.« Mit seinem Freund David, einem großen, schlaksigen Kerl, der nur wenige Tage nach ihm, auch schwimmend, nach Ceuta kam, zieht er lachend ab.