Die guten Eltern

Beate Niemann hat die Biografie ihres Vaters Bruno Sattler, Gestapo-Chef in Belgrad, recherchiert. von martin jander

Wo auch immer Kinder von NS-Tätern eine Auseinandersetzung mit den Taten ihrer Eltern versuchen, stoßen sie auf ein blockiertes Familiengedächtnis. Hier werden, kriminalistisch gesprochen, falsche Spuren gelegt, Beweise gefälscht, es wird gelogen und Zeugnisse und Zeugen werden beseitigt. Wer in diesen Irrgarten voller falscher Wegweiser eintritt, muss sich auch heute noch auf einiges gefasst machen. So ging es auch Beate Niemann, von der zur diesjährigen Buchmesse ein wesentliches, wenn auch bislang kaum beachtetes Buch erschien.

Beate Niemann ist die Tochter des Berliner Kriminalpolizisten und späteren Gestapo-Chefs von Belgrad, Bruno Sattler. Ihr Vater, 1898 in Berlin geboren, trat 1928 in den Polizeidienst ein und entschied sich später für eine Karriere in der Geheimpolizei. Zunächst war er dort für die Verfolgung von Sozialdemokraten und Kommunisten verantwortlich. 1934 betrieb er unter anderem die Ermordung des Thälmann-Nachfolgers John Schehr. Später entwickelte er sich zu einem Massenmörder mit Einsatzorten in der Sowjetunion, Jugoslawien und Ungarn. In Belgrad mordete er von 1942 bis 1944. Er befehligte dort auch den Einsatz eines Gaswagens, mit dem im Frühsommer 1942 etwa 8 500 jüdische Frauen und Kinder umgebracht wurden.

Die Autorin, 1942 geboren, hat ihren Vater nur bei verschiedenen Besuchen in DDR-Gefängnissen kennen gelernt. Bis 1947 lebte er zunächst in West-Berlin, von wo er dann verschleppt wurde. Nach Aufenthalten in verschiedenen Gefängnissen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD wurde er in der DDR in einem Geheimprozess verurteilt und bis zu seinem Tod im Oktober 1972 nicht mehr entlassen. Da Beate Niemann nicht nur von ihrer Mutter seit frühester Jugend über die Untaten ihres Vaters getäuscht wurde und ihn darüber hinaus, wegen der DDR-Haft, als unschuldiges Opfer eines Unrechtsregimes ansah, setzte sie zu seinen Lebzeiten alles daran, ihn freizubekommen. Als er dann tot war, suchte sie ihn zu rehabilitieren und wenigstens herauszufinden, warum die DDR ihn bis zu seinem Tod nicht freigelassen hatte.

Eben die zu Rehabilitierungszwecken vorgenommene Recherche schlug dann jedoch jäh um: »1991«, sagt Niemann in einem Interview, »habe ich einen Rehabilitierungsantrag für meinen Vater an das zuständige Landgericht Rostock gerichtet. Auf die erste Ablehnung reagierte ich mit Empörung. 1999 kam der endgültige ablehnende Beschluss, den ich immerhin schon akzeptieren konnte. Und da wusste ich schon vieles. Heute bin ich über die Ablehnung erleichtert. Was für ein neues Unrecht wäre sonst geschehen.«

Viele Gespräche mit Historikern und vor allem ausführliche Diskussionen und Reisen mit dem Dokumentarfilmer Yoash Tatari, der ihre Recherche für den WDR dokumentierte, ließen Beate Niemann schließlich erkennen, wer ihr Vater war. Endgültige Gewissheit verschaffte ein Buch. Da ihr Vater nach dem Ersten Weltkrieg bereits einem Freikorps angehört hatte, der Brigade Ehrhardt, suchte sie in der Bibliothek des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin nach Informationen zu diesem Thema. Sie musste ein wenig warten und schlenderte währenddessen durch die Regalreihen. Dabei stieß sie auf »Serbien ist judenfrei« von Walter Manoschek, in dem sie wesentliche Details über die Verbrechen ihres Vaters in der Zeit in Belgrad erfuhr. Seither hat Beate Niemann sich durch unzählbare Archive und Aktenberge gewühlt, hat Überlebende der Verbrechen ihres Vaters aufgesucht und alle Details zusammengetragen, die sie finden konnte.

Herumschlagen musste sie sich dabei nicht nur mit Archivordnungen und zunächst unauflösbar scheinenden Zusammenhängen. Sie musste vor allem zwei Tradierungsmechanismen der Geschichte des Nationalsozialismus im Gedächtnis deutscher Familien nach 1945 außer Kraft setzen: Opferschaft und Heldentum.

Ihren ersten Besuch bei ihrem Vater in einem DDR-Gefängnis erinnert sie z. B. so: »Dann öffnete sich die Tür, ein großer gebeugter Mann – kahl geschoren, in Anstaltskleidung, eine Mütze in der Hand, hinter ihm ein Uniformierter – betrat den Raum. Der Mann setzte sich mir gegenüber an den großen Tisch. An den Seiten saßen seine Bewacher. Das war nun mein Vater, von dem in unserem Familienkreis täglich gesprochen wurde, dessen Bild, stets mit Blumen geschmückt, auf der Anrichte im Esszimmer stand. (…) Mein Vater war die strahlende Figur in unserer Familie. Er stammte aus dem Bildungsbürgertum, war fröhlich, freundlich, ehrenhaft und setzte sich stets für andere ein, war eben ein preußischer Beamter im positiven Sinne. (So jedenfalls wurde von ihm erzählt.)«

Plastischer kann kaum berichtet werden, welches im Familiengedächtnis bewahrte Bild Beate Niemann verwerfen musste, um zur authentischen Geschichte ihres Vaters vorzudringen. Es ist deshalb auch überhaupt nicht verwunderlich, dass sie die Wahrnehmung von ihrem Vater als Opfer lange mit sich trug, sogar auch dann noch, als sie bereits viele Details seiner Verbrechen kannte. Sie berichtet z. B. folgendes Ereignis: Der Dokumentarfilmer Yoash Tatari bat sie, ihm eine Liste von Orten in Berlin zu übergeben, die im Leben ihres Vaters eine Rolle gespielt hätten. »Zwei Tage später«, schrieb Frau Niemann, »gab ich ihm eine Liste mit den Worten, ich hätte es mir leicht gemacht und die Orte unterteilt in Täter- und Opfer-Orte.« Darauf der Dokumentarfilmer: »Frau Niemann, wann war Ihr Vater Opfer?« Beate Niemann berichtet auch von ihrer unmittelbaren Reaktion auf diese Frage: »Schnell verließ ich den Raum. Wie konnte er es wagen, mich das zu fragen. Es hatte sich vorher noch niemand getraut – zumindest nicht in meinem Beisein – anzuzweifeln, dass mein Vater 25 Jahre lang Opfer gewesen war.«

Es war jedoch nicht nur das Bild vom unschuldigen Opfer Bruno Sattler, das Beate Niemann umstoßen musste, es war auch das Bild einer angeblich heldenhaften Mutter. Die Geschichte, die hier zu korrigieren war, handelte vom Geburtshaus Beate Niemanns in Berlin. Es gehörte vor dem Nationalsozialismus der jüdischen Familie Leon. Beate Niemann schildert die familiäre Erzählung, die sich später als unwahr herausstellte, so: »Die Erzählung meiner Mutter war folgende: Mein Vater und sie hätten das Haus 1942 Frau Leon abgekauft, meine Mutter habe sie mit mir im 8. Monat schwanger über die Schweizer Grenze in Sicherheit gebracht. Nach dem Krieg sei uns das Haus unrechtmäßig weggenommen und einem ihrer Enkel in Südafrika zugesprochen worden. Als Kind war ich auf dem Schulweg täglich an dem Haus vorbeigekommen, hatte oft davor gestanden, traurig, nicht verstehend, warum ich nicht in ihm leben durfte, in dem schönen Garten, den ich drei Häuser weiter von der Terrasse meiner Patentante aus einsehen konnte.«

An der Geschichte war fast alles unwahr. Durch einen Zufall machte die Autorin im Jahr 2001 die Entdeckung, dass ihre Mutter drei Tage nach ihrer Geburt dem Vater eine Karte nach Belgrad geschrieben hatte. Sattler war zu diesem Zeitpunkt bereits Gestapo-Chef. Neben vielen in diesem Zusammenhang unwichtigen Details fand sie auf der Karte den Satz: »Die Leon kommt am 20. 6. mit Transport nach dem Osten.« Entgegen ihrer eigenen Erzählung hatte Frau Sattler die vormalige Besitzerin des Hauses, Frau Leon, also nicht gerettet, sie war – wie auch die Inschrift auf dem Grabstein auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee zeigte – zunächst nach Theresienstadt deportiert und dann in Auschwitz umgebracht worden.

Durch aufwändige Recherchen fand Beate Niemann den wirklichen Ablauf der Ereignisse heraus: »Mein Vater hatte 1937 in einem Brief an Herrn Leon einen Kauf (des Hauses; d.Verf.) abgelehnt. 1942, Herr Leon war verstorben, gab mein Vater Frau Leon die Versicherung, dass sie für ein Jahr von der Evakuierung zurückgestellt werde. Sie sind zu einem Notar gegangen, meine Mutter und Frau Leon, hinter ihnen ein SS-Mann in Uniform! Frau Leon unterschrieb den Kaufvertrag, in einer Bank übergab meine Mutter ihr den Anteil des Kaufpreises in bar, den Frau Leon auf ein besonderes Konto einzahlen musste. Frau Leon gratulierte meiner Mutter noch zu meiner Geburt, dann wurde sie von der Gestapo abgeholt und am 7. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, ermordet worden ist sie Ende 1944 in Auschwitz.«

Als der Dokumentarfilm zur Recherche Beate Niemanns zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt wurde, schrieb Phillip Gessler in der taz, die ganze aufwändige Recherche Niemanns drehe sich weder um den Vater Bruno Sattler noch um seine vielen Opfer. Alles drehe sich nur um Beate Niemann selbst. Wörtlich schrieb er: »Beate Niemann ist einfach unerträglich. Sie hat das in Reinform, was der Philosoph Hermann Lübbe den Sündenstolz der Nachgeborenen über die Schuld der Väter genannt hat.« Wer das gerade erschienene Buch zur Hand nimmt, kann sich davon überzeugen, dass dies nicht richtig ist. Beate Niemann präsentiert sich selbst eher zurückhaltend. Im Mittelpunkt ihrer Darstellung steht der Versuch einer Rekonstruktion des Lebensweges ihres Vaters und der möglichst genaue Beleg für seine Taten.

Beate Niemann: Mein guter Vater. Mein Leben mit seiner Vergangenheit. Eine Täterbiografie, Teetz 2005, Verlag Hentrich & Hentrich, 223 S., 19,90 Euro