Gott liebt die Gesetzestreuen

Der Dachverband der islamischen Organisationen Frankreichs hat eine Fatwa gegen die Revolte in den Banlieues erlassen. von götz nordbruch, marseille

Und überschreitet keine Gebote, denn Gott liebt die nicht, die Gebote überschreiten‹«, heißt es in einer Fatwa, einem religiösen Rechtsgutachten, das von der Union des Organisations Islamiques de France (UOIF) erlassen wurde. Der Vers aus dem Koran lässt für den französischen Dachverband islamischer Organisationen keinen Zweifel: »Es ist jedem Muslim, der nach göttlicher Bestätigung und göttlicher Gnade strebt, förmlich verboten, sich an Aktionen zu beteiligen, die sich blind gegen privates oder öffentliches Eigentum richten oder die das Leben anderer beeinträchtigen. Die Teilnahme an solchen Handlungen ist unstatthaft.«

Angesichts der anhaltenden Revolte in den französischen Vorstädten sah sich die UOIF Anfang vergangener Woche genötigt, einen eindringlichen Appell an »alle jungen Muslime, die an diesem Geschehen beteiligt sind«, zu richten. Aufgeschreckt durch Berichte in französischen Medien, in denen über Provokationen durch islamistische Organisationen spekuliert wurde, gab man sich bei den großen islamischen Dachverbänden staatstragend. Bei allem Verständnis für die Wut über Arbeitslosigkeit und rassistische Diskriminierung, so lautete beispielsweise die Argumentation der UOIF, verstoße »blinde« Gewalt gegen den Islam und sei daher nicht akzeptabel.

Als Dachverband von über 200 islamischen Vereinen und Moscheen steht die UOIF innerhalb des Französischen Rates der Muslime für eine »gemäßigt« islamistische Strömung, die sich an der Organisation der ägyptischen Muslimbrüder orientiert. Von der Schaffung des Rates, der im Jahr 2003 von Innenminister Nicolas Sarkozy gegen starken innenpolitischen Widerstand durchgesetzt wurde, versprach sich der Staat eine bessere Kontrolle der Moscheen und islamischen Vereine. Die Veröffentlichung der Fatwa, mit der die Beendigung der Proteste erreicht werden soll, ist insofern Ausdruck eines politischen Kuhhandels: Als Gegenleistung für eine staatliche Anerkennung geben sich die islamischen Organisationen als Schlichter und bemühen sich um eine Kontrolle der muslimischen Basis.

Trotz der Bezüge auf koranische Quellen, die vom Fatwa-Rat der UOIF vorgetragen wurden, stieß die Fatwa bei französischen Muslimen keineswegs auf ungebrochene Zustimmung. In einer Stellungnahme der populären islamischen Internetzeitung Oumma.com war von einer »haarsträubenden« Fatwa die Rede. Kritisiert wurde dabei nicht die Verurteilung der Revolte, sondern die zugrundeliegende Annahme, bei den Jugendlichen handele es sich um Muslime, die sich aus falsch verstandener Religiosität an den Ausschreitungen beteiligten. »Indem sie sich als kommunitaristische Gewissenspolizei der französischen Muslime aufspielt«, hieß es in dem Kommentar, »bestätigt die UOIF die einfachsten Stereotypen über den Islam und die Muslime.«

In diesem Streit zwischen der UOIF und der Internetzeitung Oumma.com, die als Sprachrohr des islamischen Intellektuellen Tariq Ramadan fungiert, geht es um mehr als eine angemessene Antwort islamischer Organisationen auf die Proteste. Trotz gemeinsamer Bezüge auf Vordenker der islamistischen Muslimbrüder spiegeln sich in den Reaktionen unterschiedliche Akzente, die den strategischen und ideologischen Umgang mit der französischen Mehrheitsgesellschaft betreffen. Während die Argumentation der UOIF darauf abzielt, die Revolte als »unislamisch« zu verurteilen und die Muslime als gute Staatsbürger zur Ruhe aufzurufen, stellt Ramadan demgegenüber das zugrunde liegende Deutungsmuster in Frage. Nicht der islamische Familienhintergrund der Beteiligten sei demnach entscheidend, sondern die sozialen Benachteiligungen und politischen Diskriminierungen, denen sich die Jugendlichen ausgesetzt sehen. Ein Appell an einen »wahren Islam«, zu dem die Jugendlichen mit der Fatwa gemahnt werden, geht nach dieser Vorstellung am Hintergrund der Ausschreitungen vorbei.

Nicht weniger problematisch erscheinen in den Augen Ramadans allerdings die Reaktionen der nicht-muslimischen Öffentlichkeit, die sich auf ähnliche Weise religiöser Deutungen der Proteste bediene. »Was wir brauchen, ist ein Jaurès«, erklärte er deshalb in einem Gespräch mit der Presseagentur AFP unter Hinweis auf den frühen französischen Sozialisten und Verfechter des Laizismus, Jean Jaurès. »Es war Jaurès, der sagte, die religiöse Frage müsse beiseite gelegt werden, damit man sich auf die soziale Frage konzentrieren könne. Die Einheit Frankreichs ist in sozioökonomischer Hinsicht ein Mythos – die Frage des Glaubens ist in dieser Hinsicht kein Problem.«

Ramadan vertritt damit eine Linie, die er in der Vergangenheit mit großem Erfolg in den französischen Banlieues verfochten hat. Als Enkel von Hassan al-Banna, dem Gründer der ägyptischen Muslimbruderschaft, kokettiert er mit dem Image eines konservativen islamischen Denkers, der die Verteidigung von islamischen Werten mit aktuellen sozialen Fragen zu verbinden weiß. Anders als eine Politik, der es heutzutage vor allem auch um eine Verankerung der Organisation im politischen System geht, fand Ramadans Ansatz gerade unter jüngeren Muslimen in den Banlieues ein großes Echo. In den vergangenen Jahren stand Ramadan für eine erfolgreiche Popularisierung des Islam unter den sozial Deklassierten und politisch Marginalisierten der Gesellschaft.

Eine solche Konzentration auf die soziale Frage ist unter traditionellen Vertretern der Muslimbruderschaft nicht unumstritten. So zeigte sich der in Qatar ansässige Sheikh Yussuf Qaradawi, der als spirituelle Leitfigur der Muslimbrüder gilt, in der vergangenen Woche zwar ebenso erschüttert über die Unruhen. Im Vordergrund seiner Argumentation standen dabei aber nicht so sehr die sozialen Hintergründe der Proteste, sondern vor allem die Kritik ihrer Zielrichtung: »Als Araber und Muslime wünschen wir Frankreich und seiner mit uns befreundeten Bevölkerung Ordnung, Sicherheit und Frieden, gerade weil die französische Haltung bezüglich unserer arabischen und islamischen Angelegenheiten ausgewogen und fair und in vernünftigem Maße unabhängig von Amerika ist«, hieß es in einer Erklärung Qaradawis, die von dem Internetforum Islam Online verbreitet wurde.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze, die von den Protagonisten der islamischen Organisationen in Frankreich verfolgt werden, ist ihnen die relative Bedeutungslosigkeit für das Geschehen der letzten Tage gemeinsam. Weder die Fatwa der UOIF noch die Erklärungen Ramadans scheinen unter den Jugendlichen auf größeres Interesse zu stoßen.

Der symbolische Schulterschluss der UOIF mit dem in Frankreich wegen seiner Law-and-Order-Politik umstrittenen Innenminister Sarkozy dürfte dagegen ein Übriges dazu beitragen, die Vertreter des mittlerweile institutionalisierten französischen Islam weiter zu diskreditieren. Nicht weniger ernüchternd stellt sich die Situation demgegenüber für Ramadan dar. Die fortwährenden Unruhen, die erst durch die Verhängung des Ausnahmezustandes eingedämmt werden konnten, zeigen auch die Grenzen einer »Islamisierung von unten«. Angesichts der katastrophalen Zustände in vielen französischen Vororten scheint die Überzeugungskraft von islamischen Traktaten und Kassetten mit frommer Musik allein nicht mehr ausreichend zu sein.