Sex in Kleidern

Straight from the Barrio kommt Reggaeton, die karibische Antwort auf den US-amerikanischen HipHop. von knut henkel

Ursprünglich wollte Daddy Yankee Baseball-Spieler werden, doch dann traf ihn eine verirrte Kugel am Bein. Mit der Karriere in der US-Mayor League war es für den damals 17jährigen Puertoricaner nach dieser Verletzung vorbei. Statt der Baseballkeule schnappte sich der in San Juan aufgewachsene junge Mann ein Mikro und begann, zielstrebig an seiner Musikerkarriere zu feilen. Und mit Plan B hat Ramón Ayala, so sein bürgerlicher Name, derzeit mächtig Erfolg.

In der Latin-Community von New York, Miami und Los Angeles ist Daddy Yankee längst eine Ikone. Selbst die HipHop-Stars sind auf den neuen Sound aufmerksam geworden. New Yorks Hot 97 Radio Station hat eine wöchentliche Reggaeton-Show ins Programm gehievt, und immer öfter sind Reggaeton-Mixes auf erfolgreichen Rap-Alben zu hören. Cypress Hill gingen einen Schritt weiter und mit Tego Calderón, einem Altmeister der Zunft, ins Studio. Dem eifert Daddy Yankee nach. Demnächst hat er mit Dr. Dre einen Studiotermin, womit ein Traum des 28jährigen Reggaeton-MC wahr wird. Ein weiterer Schritt auf dem Weg in die Liga der Superstars ist gemacht.Denn ganz nach oben, dort will Daddy Yankee hin und dafür arbeitet er wie besessen. Der Musiker trifft alle wesentlichen Entscheidungen in Eigenregie und tüftelt im Studio an seinen Stücken. Längst hat er sein eigenes Label aufgebaut und entscheidet selbst, wie es wann weitergeht. Stressig ist das, aber die eigene Unabhängigkeit ist ihm wichtig, erzählt er.

Der Mann sprüht vor Ideen. Der Film »Straight from the Barrio«, ein sozialkritisches Projekt über das Leben in den Ghettos von San Juan, ist weit gediehen, und die neue CD ist schon fast eingespielt. Sie soll den internationalen Erfolg von »Barrio Fino« noch übertreffen. Das Album führte in den USA die Latin Billboard Charts über mehrere Wochen an und hat in Europa, wo es seit einigen Monaten auf dem Markt ist, ähnlich gut eingeschlagen.

Daddy Yankee hat den US-Markt intensiv beackert; als Sprungbrett diente ihm, genauso wie den anderen Reggaeton-Größen von der Insel, die puertoricanische Gemeinde in New York, die aus rund 900 000 Nuyoricans besteht. Dort sind Musiker wie Don Omar, Ivy Queen, Speedy oder Daddy Yankee längst Stars, die gemeinsam 2003 und 2004 den Madison Square Garden füllten.

Daddy Yankee fühlt sich seinem Stadtviertel Villa Kennedy verbunden, seine Texte beziehen sich immer wieder auf den Alltag dort. Er appelliert z.B. in dem Stück »Salud y Vida« (Gesundheit und Leben) an die Leute in den Barrios zusammenzuarbeiten, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Nicht unbedingt typisch für die Szene. Lyrics und teilweise auch die Beats sind das Latino-Pendant zum Gangsta-Rap der USA, für die Kids in San Juan sind sie Ausdruck der eigenen, oftmals beschissenen Realität. Gewalt, Drogenhandel und Kriminalität werden verherrlicht, der Machismo ist omnipräsent, und genauso direkt und unverblümt wie die Texte ist auch der Perreo, der Tanz zum Sound. Erotisch, geradezu sexistisch ist er und wird von Fans wie Gegnern des Reggaeton als »Sex mit Kleidern« bezeichnet.

Speedy, einer der Newcomer der Szene, hat gleich eines seiner Stücke, »Haciendo Amor en La Ropa«, zu deutsch »Sex in Klamotten«, danach betitelt. Frauen und Sex scheinen ihm als einzige Inspiration beim Produzieren seiner Stücke zu dienen, flache und zumeist anzügliche Texte sind typisch für viele Reggaeton-MCs. Damit haben sie sich zumeist die Ablehnung der älteren Generation eingehandelt. Speedy ist das egal. Für den 25jährigen MC ist die Tabuisierung von Sex in der puertoricanischen Gesellschaft das entscheidende Problem. Dagegen will er sich auflehnen, verlautbart der Musiker. Einfallsreichtum kann man ihm dabei aber beileibe nicht unterstellen.

Da agiert der drei Jahre ältere Daddy Yankee wesentlich subtiler. Sein Superhit »Gasolina« hat auch eine anzügliche Note, nur kommt die nicht ganz so plump rüber. Ein entscheidender Grund, weshalb er bei der älteren Generation in Puerto Rico mittlerweile Respekt genießt. Die wollte noch vor wenigen Jahren den Sound aus den Barrios von San Juan gänzlich verbieten. Bei Polizeikontrollen wurden CDs und Tapes noch Mitte der neunziger Jahre beschlagnahmt, weil sie gewaltverherrlichend, pornografisch, aber auch regierungskritisch waren.

Mit der Gründung von The Mix 107.7 FM, der ausschließlich Reggaeton spielenden Radiostation in San Juan, setzte sich das ungeliebte Genre endgültig durch. 1998 war das, und längst ist Reggaeton der Sound der Jugend, Salsa ist inzwischen den Familienfesten vorbehalten. Doch auch mit der Musik der Eltern können einige der Reggaeton-Größen etwas anfangen. So ist Daddy Yankee mit den lokalen Salsalegenden Domingo Quiñones und Andy Montañez im Studio gewesen. Das Ergebnis der Kooperation mit Montañez, »Sabor a Melao«, ist auf Barrio Fino zu hören und bietet ein wenig Abwechslung vom treibenden, blechern scheppernden Dancehall-Sound aus dem Drumcomputer. Aus seiner Affinität zu Salsa macht Daddy Yankee, dessen Vater Congas in einer Salsaband spielte, ohnehin kein Geheimnis. Vieler seiner Kollegen ergänzen ihren trashig-pushenden Sound mit Cumbia-, Bomba- und Merengue-Klängen. So ist für jeden etwas dabei im Meltingpot des Reggaeton.

Der Stil hat seinen Ursprung in Panama. Dort schob zu Beginn der neunziger Jahre DJ El General spanische Lyrics über jamaikanische Riddims. Die Idee machte die Runde, wurde in Puerto Rico weiterentwickelt und zum heutigen Reggaeton ergänzt. Der Sound hat inzwischen in Miami, Los Angeles oder Orlando eingeschlagen. Dort hat sich eine eigene Szene entwickelt, so MC Pitbull, ein Exilkubaner in Miami. Zwei Hits, »Culo« und »Toma«, hat er zur Reggaeton-Welle beigesteuert. Anders als die Kollegen aus Puerto Rico singt er nicht in Barrio-Spanisch, sondern zieht eine Mischung aus Englisch und Spanisch vor – das so genannte Spanglish.

Sein Vorbild hat bereits Schule gemacht, auch Mastermind Daddy Yankee überlegt, ob er nicht eine der nächsten CDs in Spanglish einspielt. Vor allem im Süden der USA, wo viele Latinos leben, kann man damit bestens landen. Die Latin-Rapper haben dem Spanglish dort den Boden längst bereitet, es scheint nur logisch, dass ihnen die Puertoricaner folgen werden. Ohnehin wird es in der dortigen Rap-Szene mehr und mehr zur Pflicht, mindestens einen Reggaeton-Remix ins Programm zu heben oder eigene Reggaeton-Songs zu verfassen – Cypress Hill, Sasha oder Snoop Doggy Dog weisen den Weg.

Die Reggaeton-Community in Miami, der Reggaeton-Hochburg an der Westküste, orientiert sich auch an der Szene auf Kuba. Dort hat sich in den letzten Jahren eine eigene Reggaeton-Kultur entwickelt. Festivals vor 30 000 Fans hat es in Havanna letztes Jahr gegeben, Bands wie Maxima Alerta und Cubanito 20-02 sind schon in den Adelsstand der kubanischen Musik gehoben worden: Sie durften im Teatro Carlos Marx spielen. Das war früher vornehmlich den linientreuen Musikern vorbehalten. Zu denen gehören die Reggaeton-Musiker allerdings nicht.

In ihren doppeldeutigen Texten sind auch kritische Aussagen verpackt. Doch nicht die sind es, die dem offiziellen Kuba missfallen, vor allem stören die banalen und vulgären Lyrics. Zu anzüglich, zu sexistisch seien die Texte einiger Musiker, meldete das offizielle Presseorgan Granma. Allen voran wird Candyman, der aus Santiago de Cuba stammende MC, immer wieder genannt. Im Heimstudio ist seine erste selbst produzierte CD entstanden, mit seinen frechen anzüglichen Stücken will der 26jährige auf sich aufmerksam machen. Das hat ihm den Eintrag auf dem Index eingebracht – folglich sollen seine Stücke nun nicht mehr in Schulen und Diskotheken gespielt werden, auch aus dem Radio könnten sie verschwinden. Ärgerlich für ihn, denn seine Riddims kommen bei vielen kubanischen Jugendlichen gut an. Einige davon bezieht er brühwarm von Irie-FM und anderen jamaikanischen Radiosendern. Die sind im Osten Kubas, in Santiago de Cuba, Holguín oder Baracoa gut zu empfangen und dienen den kubanischen Reggaeton-MCs als Riddim-Fundus.

Die meisten Musiker der kubanischen Regggaeton-Szene, ob Candyman, Klan Destino, El Medico oder Maxima Alerta stammen aus dem Osten der Insel. Und in der Szene machen die neuesten Riddims schnell die Runde. Landesweiten Erfolg mit ihrer sehr melodiösen Mischung aus Dancehall, Rap Cubano, Salsa und Pop hatten bisher Cubanito 20.02, eine Reggaeton-Formation aus Havanna, und Maxima Alerta. Nachdem Cubanito 20.02 bereits im vergangenen Jahr ihr erstes internationales Album beim französischen Lusafrica-Label einspielten, folgte Maxima Alerta in diesem Jahr. Ohnehin haben die vier Musiker aus Santa Clara sowie ihre Kollegen von der Insel das Zeug dazu, den treibenden Sound aus San Juan zu bereichern. Die Kubaner nutzen den Fundus der kubanischen Musikgeschichte, experimentieren mit Einflüssen aus der Timba, dem kubanischen Salsa, und präsentieren sich zumeist melodiöser als die Kollegen aus San Juan. Sie sind auf dem besten Weg, einen eigenständigen Reggaeton-Stil zu entwickeln. Allerdings geht es in den Texten nicht um Gewalt, Gangs und Drogen. Das sind Themen, die beim Publikum auf herzlich wenig Verständnis stoßen würden, erklärt Bandleader Ray Machado. Er bereitet sich derzeit mit seinen drei Freunden auf die erste Europa-Tour im Herbst vor. Auf Daddy Yankee muss man hingegen noch etwas länger warten.

Daddy Yankee: Barrio Fino. Universal Records, Speedy: Nueva Generación. Universal Music, Cubanito 20.02: Soy Cubano. Lusafrica (Sunny Moon), Maxima Alerta: Llegaron los alertas. Lusafrica (Sunny Moon)