Die Antwort von oben

Mit Schnellverfahren, Ausgangssperren und der Streichung von Sozialleistungen versucht die französische Regierung, ihre Ordnungsmacht wieder herzustellen. von bernhard schmid, paris

Der Strom reißt nicht ab. Den ganzen Tag über werden junge Leute dem Schnellrichter vorgeführt. Im Justizpalast von Bobigny bei Paris werden die Teilnehmer an den jüngsten Unruhen in den Vorstädten beinahe wie am Fließband abgeurteilt. Sie erscheinen im Rahmen des Schnellverfahrens, das auf so genannte In-Flagranti-Delikte Anwendung finden soll, vor dem Strafrichter. Es erlaubt dem Angeklagten nicht, zwischen seiner Festnahme und der Beendigung des Prozesses auf freien Fuß zu kommen. Die meisten Angeklagten werden von Pflichtverteidigern vertreten.

Vor dem Richter stehen Slimane, Traoré und Samir. Sie verlangen etwas mehr Zeit, um ihre Verteidigung vorzubereiten. Darauf haben sie ein Recht, bis zum neuen Prozesstermin müssen sie allerdings in Haft bleiben. Die Nächsten sitzen schon auf der Anklagebank. Hussein wird von Polizeizeugen beschuldigt, um Mitternacht dabei gesehen worden zu sein, wie er Minderjährigen einen Benzinkanister übergab. Er selbst will ihnen nur »für ihr Mofa ausgeholfen« haben und behauptet, keine Kenntnis von verbotenen Plänen gehabt zu haben. Die Polizeizeugen berufen sich darauf, dass einige Minuten später in der Nähe Autos gebrannt hätten. Aus juristischer Sicht ist der Beweis einer konkreten Tatbeteiligung recht dürftig. Nach wenigen Minuten fällt das Urteil: 15 Monate Haft – ohne Bewährung. Unruhe und Tumult im Gerichtssaal. Ruhe! Der Nächste bitte!

Justizminister Pascal Clément erklärte ausdrücklich, er habe die ihm unterstehenden Staatsanwälte angewiesen, systematisch Haftstrafen ohne Bewährung zu fordern. In über vier Fünfteln der Fälle werden sie auch verhängt. Gegen etwa 600 von insgesamt 3 000 im Zuge der Unruhen Festgenommenen wurden bislang Anklagen vorbereitet.

Im Großraum Paris sind von den Verhaftungen offensichtlich vorwiegend Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation betroffen. Das ist aber nicht überall so. Im nordfranzösischen Lille sind es überwiegend junge Weiße aus französischen oder belgischen Einwandererfamilien, die vor dem Schnellrichter erscheinen. Ein Beleg dafür, dass die Misere der französischen Banlieues nicht nur eine migrationspolitische oder religiöse Komponente hat. Zu ihr gehört auch eine bitterarme weiße Unterschicht, der ebenfalls wegen unbezahlter Rechnungen im Winter der Strom abgedreht wird und in der die Familienstrukturen weitgehend zerrüttet sind. Im Großraum Lille, wo es früher ein geschlossenes Arbeitermilieu gab, mag dieses Phänomen augenfälliger sein als in den Pariser Trabantenstädten: Dort wurde die Immigrationsbevölkerung schon früh als »Puffer« auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt und wurde so das erste Opfer von Prekarisierung und Massenentlassungen.

Die Ethnisierung der sozialen Krisenphänomene wird aber auch von führenden Stellen betrieben. So prangerte der Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium, Gérard Larcher, die angeblich polygam lebenden Afrikaner an: Ihre »asoziale Lebensweise« sei die Ursache für die »Verwahrlosung« ihrer Kinder. Das war selbst der rechten Boulevardzeitung France Soir zu viel, die ihre Titelseite am Freitag mit der Schlagzeile aufmachte: »Polygamie, Unruhen: Die absurde Erklärung«. Die Polygamie, die in Frankreich seit langem verboten ist, wird nach offiziellen Schätzungen noch von höchstens 20 000 Familien unerlaubt betrieben. Die Zahl gebürtiger Franzosen, die mit einer Frau verheiratet sind und gleichzeitig mehrere andere schwängern, dürfte jedoch wesentlich höher liegen. Der »neue Philosoph« Alain Finkielkraut behauptete, man könne in Frankreich aus Furcht vor Strafe keine Meinung mehr über ethnische Minderheiten kundtun. Das Problem sei, »dass die revoltierenden Jugendlichen fast alle Schwarze oder Araber sind und sich zum Islam bekennen«. Im Figaro verstieg er sich gar zu der Behauptung, es handele sich »nicht um eine Revolte gegen den Rassismus der Republik, sondern um ein gigantisches antirepublikanisches Pogrom«.

Neben der Ethnisierung in der Wahrnehmung sozialer Probleme kommen auch viele alte Lösungsvorschläge konservativer bis reaktionärer Provenienz auf den Tisch. Besonderer Beliebtheit erfreut sich der Vorschlag, die Familienstrukturen als Ordnung stiftenden Faktor zu instrumentalisieren. Schon vor Jahren forderten rechte Politiker, jene oft zerrütteten Familien, die ihre Sprösslinge nicht kontrollieren und am Abgleiten in die Kriminalität hindern könnten, durch Entzug der Sozialleistungen zu bestrafen. Diese Form von kollektiver Disziplinierung wurde in der vorigen Woche erstmals gemacht. Der Bürgermeister der Pariser Vorstadt Draveil, Georges Tron, strich allen Familien, deren Kinder infolge der Unruhen verurteilt wurden, die kommunalen Sozialleistungen. Sie verlieren damit etwa die Beihilfe zur Stromrechnung, und ihre Kinder – auch die Brüder und Schwestern der Verurteilten – erhalten keine Zuzahlung zur Schulkantine mehr. Solche Maßnahmen scheinen relativ populär zu sein. »Frankreich gleitet nach rechts«, kommentierte am Sonntag die Regionalzeitung Le Parisien.

Zu den politischen Spätfolgen der Revolte gehört der Ausnahmezustand, der am 8. November verhängt und in der vorigen Woche um ganze drei Monate verlängert wurde. Die Notstandsgesetze erlauben örtliche Ausgangssperren ebenso wie die Einführung der Pressezensur, die Internierung »sicherheitsgefährdender Personen« und die Schließung von Versammlungsräumen. Bisher hat die Regierung von diesem weitreichenden Repressionsarsenal allerdings nur die Möglichkeit der Ausgangssperren genutzt. In fünf der 26 französischen Départements, in denen Unruhen stattgefunden hatten, wurden – teils für Minderjährige, teils für alle Bewohner – Ausgehverbote ab einer bestimmten Uhrzeit verhängt. Dabei waren die Örtlichkeiten, in denen die Maßnahme galt, selten die am meisten von Unruhen betroffenen. Im Großraum Paris etwa wurde fast nirgends von Ausgangssperren Gebrauch gemacht, da die Riots ohnehin abflauten.

Das gravierendste Beispiel eines präventiv wirkenden Ausnahmezustands lieferte Evreux in der Normandie. Dort wurde, einige Tage nach dem Ende der örtlichen Unruhen, ein ganzes Viertel mit knapp 20 000 Einwohnern – das Quartier de la Madeleine – mit Absperrgittern verriegelt. Von 22 Uhr bis fünf Uhr früh konnte niemand hinein oder hinaus, es sei denn, er konnte einen familiären, medizinischen oder beruflichen Notfall nachweisen. Diese besonders spektakuläre Maßnahme in der Stadt, deren Bürgermeister Jean-Louis Debré vor zehn Jahren konservativer Innenminister war, wurde eine ganze Woche lang aufrechterhalten.