»Für uns Frauen geht der Krieg weiter«

In Guatemala steigt die Zahl der Frauenmorde drastisch. Die Ermittlungsbehörden wirken auffällig hilflos. Patriarchale Strukturen und der Bürgerkrieg wirken nach. von wolf-dieter vogel

Alleine? Mit dem Bus? »Auf keinen Fall, das ist zu gefährlich. Wir fahren zusammen mit meinem Wagen«, sagt Ana Morales. »Könntest du den Sprit bezahlen?« Zunächst muss sie mit ihren Kolleginnen noch ein paar Flugblätter für eine Veranstaltung zusammenfalten. Dann geht es los, raus aus dem kleinen Hinterhof, in dem das für Frauen zuständige Büro der Ombudsstelle für Menschenrechte beheimatet ist. Vorbei an nicht enden wollenden Mauerflächen, hinter denen sich heruntergekommene einstöckige Häuser verbergen; vorbei an Menschen, die sich auf den engen Gehsteigen mühselig vor den Lastwagen und Kleinbussen in Sicherheit bringen. Das Ziel: Villa Nueva, 3. Straße, Nummer 34, eine Stunde vom Zentrum von Guatemala-Stadt entfernt.

Auch das Haus von Alma de Villator liegt versteckt hinter einer hohen Mauer. Erst hinter dem Metalltor wird der ohrenbetäubende Lärm etwas erträglicher. Im Garten steht noch immer der rote Wagen, so, wie ihn damals die Polizei abgestellt hat. Zugedeckt mit einem grauen Teppich, eingestaubt vom Dreck der Vorstadt. »Das Blut klebt noch auf den Sitzen«, sagt Alma de Villator. Vor der Haustür springt ein kleiner weißer Hund aufgeregt hin und her. »Der gehörte auch Cora.«

Das Auto und der Hund, das ist alles, was ihr von der Tochter geblieben ist. Und die Erinnerung. Die Fotos einer jungen Frau mit aufgewecktem Blick, dunklen Augen, langen schwarzen Haaren. Bilder mit Freunden von einem Ausflug nach Panajachel am Atitlan-See. »Sie hat studiert und als Modell gearbeitet, sie hatte ja alles für diesen Job.« Dann zieht Alma de Villator aus einem Stapel zusammengebündelter Akten eine alte Zeitung hervor und zeigt auf das Bild eines jungen Mannes. »Der war es. Der hat mein Kind umgebracht«, sagt sie mit Tränen in den Augen, »aber sie haben ihn nach vier Monaten aus dem Gefängnis entlassen, ohne Anklage, ohne Verfahren.«

»Keine Beweise«, hatte die Staatsanwaltschaft wissen lassen. Dabei besaß die Mutter der 21jährigen Cora jede Menge Beweise. »Aber das hat die Ermittler nicht interessiert.« Dreimal sei sie zur Staatsanwaltschaft gefahren, aber immer habe man sie abgewiesen. »Wenn nötig, melden wir uns«, hätten die Ermittler geantwortet. Nur einmal riefen sie tatsächlich an: Um zu sagen, dass der mutmaßliche Mörder ihrer Tochter freigelassen wird. Seitdem steht für Alma de Villator außer Zweifel: »Die Eltern des Täters haben den Staatsanwalt geschmiert.«

Straflosigkeit, Korruption, Gleichgültigkeit – Phänomene, mit denen Ana Morales und ihre Kolleginnen täglich konfrontiert sind. »In den letzten fünf Jahren wurden 1 900 Frauen und Mädchen ermordet, und nur in sechs Fällen kam es zu Verurteilungen«, sagt die Leiterin der Behörde, Anabella Noriega. Die beiden Mitarbeiterinnen der Ombudsstelle für Menschenrechte sind ständig unterwegs, um Seminare gegen Gewalt zu veranstalten, Treffen mit Aktivistinnen zu organisieren oder Angehörige von Opfern wie Alma de Villator zu besuchen. Das Geld der vom Parlament eingerichteten Ombudsstelle reicht kaum, um die Gehälter zu zahlen. Vieles läuft nebenher, auf eigene Kosten.

Der Weg zurück von Villa Nueva führt vorbei an einigen Maquiladoras, jenen Produktionsanlagen, in denen meist Frauen Hosen, T-Shirts oder Hemden für den Weltmarkt herstellen. Einem Hochsicherheitsgefängnis ähnlich, liegen die flachen Hallen mit ihren blauen und roten Wellblechdächern hinter einer großen weißgrauen Mauer, gesichert durch Scheinwerfer, schießschartenähnliche Gucklöcher und ein Stahlschiebetor. »Wer hier arbeitet, lebt gefährlich«, sagt Ana Morales und zeigt auf die andere Seite der Straße, wo sich ein Meer von kleinen grauen und braunen Steinhäusern den Hang hinaufzieht. Befestigte Straßen gibt es hier nicht, Stromkabel hängen wie lose Seile zwischen Holzmasten, die spärliche Beleuchtung lässt erahnen, dass der tägliche Heimweg zum lebensgefährlichen Gang werden kann.

Es sind solche Orte – einsame dunkle Straßen, Müllplätze, verlassene Grundstücke –, wo viele ermordete Frauen aufgefunden werden. Oft verweisen die Leichen darauf, dass die Mörder ihre Opfer vor dem Tod gefoltert haben. Etwa im Fall von María Isabel Veliz Franco. Die 15jährige war mit Stacheldraht an Händen und Füßen gefesselt und dann stranguliert worden. Wie Alma de Villator wartet auch die Mutter von María Isabel noch immer darauf, dass die Täter verurteilt werden. »Zuerst werden ihre Mütter, Töchter oder Schwestern ermordet, und dann nimmt man den Familien auch noch jede Hoffnung auf Gerechtigkeit«, sagt Noriega. »Das ist eine Einladung, weiter zu morden.«

In keinem Land Lateinamerikas werden so viele Frauen ermordet wie in Guatemala. Waren es im Jahr 2002 noch 317 registrierte Fälle, so stieg die Zahl 2004 auf knapp 500, und in diesem Jahr wurde diese Zahl bereits im Sommer überstiegen. Die Opfer sind Studentinnen, Hausfrauen, Arbeiterinnen, Prostituierte oder Mitglieder von Jugendbanden, den so genannten Maras. »In knapp drei Vierteln der Fälle wurde erst gar nicht ermittelt«, sagt Noriega, »folglich wissen wir auch nichts über die Motive.« Strafverfolger Renato Durán, der Leiter der Staatsanwaltschaft für Tötungsdelikte, schreibt knapp zwei Drittel der Morde den Maras zu. Interne Machtkämpfe und Eifersuchtsdramen spielten ebenso eine Rolle wie Überfälle oder Drogengeschäfte. Eines kann er mit Sicherheit sagen: »Die Mehrheit der Opfer stammt aus der urbanen armen Bevölkerung.«

Knapp 80 Prozent der 14,3 Millionen Guatemaltekinnen und Guatemalteken sind arm, gut zwei Millionen leben im Großraum der Hauptstadt. Etwa in den Randbezirken Villa Nueva und Mizco. Oder im Zentrum, in der Zone 1. Hier kämpft jeder auf seine Weise ums Überleben: Auf dem Parque Central versprechen Sektenprediger in aufgeregten Reden Erlösung vom täglichen Leiden, in den Hauptstraßen verkaufen jugendliche Händler illegal kopierte CDs, in den abseitigen Ecken fordern tätowierte Männer von den Ladenbesitzern ein paar Quetzales. »Wer den Maras nichts gibt, dem werden nachts die Scheiben eingeworfen«, erzählt die Inhaberin eines Cafés. Gleich um die Ecke habe deshalb jüngst ein Elektrogeschäft dicht gemacht.

Kaum ein Tag vergeht, an dem das Boulevardblatt Nuestro Diario nicht mindestens einen Toten in der Zone 1 meldet, neben großen Farbfotos von Leichen auf Müllplätzen und Überfällen auf Verkehrsbusse. »Allein hier in der Stadt bearbeiten wir täglich acht Mordfälle«, erklärt Staatsanwalt Durán.

Dennoch wollen vor allem Feministinnen die drastisch steigende Zahl von Frauenmorden nicht nur auf die zunehmende Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft zurückführen. »Viele Frauen werden wegen ihres Geschlechts angegriffen«, sagt Laura Montes, die für das Menschenrechtszentrum CALDH an einer Studie über die »Feminizide« arbeitet. Dann verweist die Wissenschaftlerin auf die besonderen Grausamkeiten, die Vergewaltigungen und Verstümmelungen, die vielen Morden vorausgehen. »Es gibt Frauen, die mit 78 Messerstichen ermordet wurden«, bestätigt Norma Cruz von der Associación de Sobrevivientes, der »Gruppe der Überlebenden«. Geradezu symbolisch würden Geschlechtsteile zerstört. Manchmal seien Leichenteile an verschiedenen Orten abgelegt worden.

»Das alles finden wir bei Morden an Männern nicht«, erklärt Montes. Sie führt die Zunahme der Angriffe auf verschiedene Faktoren zurück: auf die patriarchale Tradition des Landes ebenso wie auf die Verunsicherung, die eine langsam sich verändernde Rolle der Frau in der Männerwelt verursacht. Schließlich sind Frauen in dem vom Katholizismus geprägten Land immer mehr im öffentlichen Leben präsent. Häufig sind sie zu Haupternährerinnen der Familien geworden. Vor allem aber, betont die Wissenschaftlerin, seien die Morde »ohne den geschichtlichen Zusammenhang nicht zu verstehen«.

36 Jahre lang tobte in Guatemala ein Bürgerkrieg, bis die Regierung und die Guerillaorganisation URNG 1996 einen Friedensvertrag vereinbarten. Soldaten der Armee und Mitglieder paramilitärischer Organisationen gingen brutal gegen Frauen vor. Sie vergewaltigten und ermordeten diese als Trophäe der Überlegenheit, oder um sich zu rächen. »Die Frauen waren das spezielle Ziel der Repression«, erinnert sich die heutige URNG-Parlamentsabgeordnete Alba Estela Maldonado. Ein Foto an der Wand ihres Büros zeigt eine junge Frau zwischen Bäumen, die ein Gewehr trägt. »Viele kennen mich noch unter dem Namen Lola«, sagt Maldonado, die früher selbst in der Guerilla organisiert war. »Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt« seien »Teil der Aufstandsbekämpfungsstrategie« gewesen, bestätigt auch amnesty international in einem Bericht über die Frauenmorde, der im Juni 2005 erschienen ist. Zu Kriegszeiten waren vor allem Indigene aus dem ländlichen Raum betroffen, heute gehört die Mehrheit der Opfer den »Ladinos«, der städtischen Bevölkerung spanisch-indigener Herkunft, an. Doch die Charakteristika der Verbrechen gleichen sich.

»Keiner der Täter aus Bürgerkriegszeiten wurde verurteilt«, kritisiert die frühere Guerillera Maldonado. 50 000 Soldaten hatte das Militär während des Kriegs, 30 000 von ihnen wurden im Zuge des Friedensvertrags entlassen, manche arbeiten heute in den Behörden, andere bei der Polizei. »Haben sie etwa ihren Blick auf Frauen innerhalb von ein paar Jahren geändert?« fragt die Parlamentarierin. Nein, über die Straflosigkeit könne sie sich nicht wundern, wenn »unzählige Personen, die damals unter der Ideologie von Ausgrenzung und Diskriminierung Krieg geführt haben, später in den Staatsapparat integriert werden«.

Am Vormittag hatten sich Maldonado, Morelos, Noriega und mindestens 20 weitere Frauen im Versammlungsraum der Ombudsstelle getroffen, um einmal mehr über das weitere Vorgehen zu beraten. Auch Rosanelli Pérez ist dabei, eine junge indigene Frau, die seit über drei Jahre mit den »Sobrevivientes« kämpft: Sie will ihren ehemaligen Chef vor Gericht sehen. »Er hat mich vergewaltigt, deshalb habe ich heute ein Kind«, sagt sie, »und noch immer vergewaltigt er seine Angestellten.« Auf die Arbeit der Strafverfolger geben die »Überlebenden« nicht viel. »Sie lachen über dich. Sie erklären dir, dass du sicher irgendwas getan hast, um die Vergewaltigung zu provozieren«, sagt ihre Mitstreiterin Rita Lunsford.

Machismus? Gleichgültigkeit? Carlos Calju von der Zivilen Nationalpolizei weist die Kritik zurück. »Wir arbeiten mit aller Kraft, 24 Stunden am Tag«, erklärt der Polizeisprecher. Dann erinnert er mehrmals daran, dass auch eine Anwärterin für die Miss-Guatemala-Wahl ermordet worden sei. Die Aufklärungsrate? Die Opfer? Die Hintergründe? Es gibt keine stichhaltige Antwort. Für genauere Informationen verweist er auf die »Einheit gegen Frauenmorde«, die im April 2004 eingerichtet wurde – das Ergebnis eines Besuches der Uno-Beauftragten für Gewalt gegen Frauen, Yakin Ertürk, die ein schärferes Vorgehen des Staates eingeklagt hatte.

Von Caljus Pressesaal im Polizeipräsidium geht es nach oben, vorbei an großen Stelltafeln, die Polizisten zeigen, die im Dienst ums Leben kamen. Stockwerk für Stockwerk verblasst der koloniale Schick, mit dem das Gebäude auf den ersten Blick protzt. Die Räume werden kalt, die blaue Farbe bröckelt von den Wänden. In der fünften Etage informiert ein kleiner, notdürftig mit Tesafilm befestigter Zettel: »Einheit gegen Frauenmorde«. Hinter der Türe liegen drei dunkelhäutige Männer zusammengekauert auf dem Boden. Ihre Hände und Füße sind gefesselt. Verängstigt schauen sie in den Raum, niemand nimmt sie zur Kenntnis. Sondereinheitschef Julio Roberto Mendez und seine Kollegen sind mit der Koordination beschäftigt. »Unsere Ressourcen sind sehr beschränkt«, erklärt Mendez, »aber trotzdem haben wir viel gegen die Frauenmorde getan.« Dann verweist er auf »harte Fakten«: 160 Festnahmen habe man in den letzten Monaten vorgenommen. »Das Problem liegt bei den Staatsanwälten, die zu sehr auf die Rechte der Festgenommenen achten und sie wieder freilassen.«

Auf solche Ansichten reagiert Strafverfolger Durán genervt. »Wenn die Polizei jemanden festnimmt, heißt das noch lange nicht, dass er was mit dem Fall zu tun hat.« Dennoch weiß der Staatsanwalt sehr genau, wie schwierig es um Beweise bestellt ist: »Die Zeugen sind sehr verletzbar. Wer aussagt, muss damit rechnen, umgebracht zu werden.« Zwar sei die von Menschenrechtlern eingebrachte Zahl von sechs Urteilen in fünf Jahren untertrieben, aber tatsächlich sei es fast unmöglich, jemanden hinter Gitter zu bringen. Auch die Mitarbeiter von Duráns Behörde werden regelmäßig bedroht. »Das geht von Gruppen aus, die viel Macht haben und folglich auch einen Richter oder Staatsanwalt neutralisieren können.«

Der guatemaltekische Ombudsmann für Menschenrechte, Sergio Morales, wird konkreter. Für ihn steht außer Frage, dass hinter vielen der Morde aus dem Bürgerkrieg herrührende »parallele Mächte« stecken, die so stark sind, dass sie die Regierbarkeit des Landes in Frage stellen können. »Wir gehen von einem Netz des organisierten Verbrechens von mindestens 15 000 bis 20 000 Menschen aus, in das viele Akteure einbezogen sind: Polizisten, Militärs, Politiker, Richter, Drogendealer, Jugendbanden und so weiter.« Deshalb sei es nahe liegend, dass auch gegen Mitglieder von Polizei und Armee wegen der Frauenmorde ermittelt werde.

Schon die Metalldetektoren und Sicherheitsschleusen am Eingang der Ombudsstelle verweisen darauf, dass mit diesen Mächten nicht zu scherzen ist. Ständig werden Menschenrechtler angegriffen. Etwa Leute, die sich um Exhumierungen von Bürgerkriegsopfern kümmern. »Man will nicht, dass die Wahrheit ans Licht kommt«, meint Morales. Die Maras würden häufig nur als ausführende Organe benutzt.

Organisierte Kriminalität, familiäre Gewalt, gewöhnliches Verbrechen? Ana Morales von der Ombudsstelle schüttelt den Kopf. »Die fehlenden Ermittlungen lassen keine Einordnung der Morde zu.« Einig sind sich Menschenrechtler jedoch in ihrer Kritik des staatlichen Engagements. Weiterhin seien viele korrupte Beamte aktiv, und noch immer stelle die Regierung nicht genügend Geld zur Verfügung, um Strafverfolger adäquat auszubilden und Zeugen den notwendigen Schutz zu garantieren. Amnesty international erinnert an den Friedensvertrag: »Der guatemaltekische Staat hat sich dazu verpflichtet, alle Formen der Diskriminierung von Frauen zu bekämpfen.« Davon sei bislang wenig zu spüren, resümiert Morales, denn »für uns Frauen geht der Krieg weiter«.

Dann steigt sie in ihren Wagen. Sie muss weiter. Eine Veranstaltung für Schulmädchen muss heute noch über die Runden gebracht werden. Das Thema lautet: »Wie schütze ich mich vor gewaltsamen Übergriffen?« Nuestro Diario meldet indes den nächsten Mord: Die 52jährige Emma Inés Corzo wurde tagsüber auf offener Straße erschossen. Tatort: Ecke 1. Avenida, 10. Straße, mitten im Zentrum der Stadt.