»Geht wählen!«

alain seguret ist Vorsitzender von Attac Seine-St. Denis und gehört zum linken Flügel der sozialistischen Partei

Wo waren Sie während der Ausschreitungen?

Die Ausschreitungen, von denen Sie sprechen, ereigneten sich ausschließlich nachts, und da war ich natürlich zuhause. Tagsüber haben wir uns in Versammlungen mit Aktivisten von lokalen Organisationen beraten. Wir haben die Auseinandersetzungen zwischen Randalierern und Polizisten nicht direkt miterlebt. Attac hat mehrere offizielle Stellungnahmen veröffentlicht. Über unsere lokalen Komitees versuchen wir indessen, der Bewegung eine politisch wirksame Struktur zu geben. Denn bis jetzt sind trotz der großen öffentlichen Aufmerksamkeit noch keine Lösungen gefunden worden.

Welche Stellung bezieht Attac gegenüber den jungen so genannten Randalierern?

Attac kann die Gewalt nicht gutheißen. Aber natürlich verstehen wir die Wut der Jugendlichen. Wir verurteilen die Gewalt. Allerdings sagen wir auch ganz klar, dass keine Lösung möglich ist, die die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht von Grund auf verändert.

Sie sagen, sie unterstützen die Jugendlichen nicht…

Es sind nicht »die« Jugendlichen, die auf die Straße gehen, sondern nur eine kleine Minorität. Die überwältigende Mehrheit der jungen Leute hat sich ruhig verhalten. Diesen Punkt möchte ich ausdrücklich betonen. Der Eindruck, den man aus der Ferne gewinnen kann, dass die Jugend in Frankreich den Aufstand probt, dass die Banlieue in Flammen steht, stimmt überhaupt nicht mit den realen Verhältnissen überein.

Welche Lösung hat Attac anzubieten?

Wir wollen unter den Jugendlichen den Gedanken verbreiten, dass das System auf demokratische Weise verändert werden kann. Sie müssen sich politisch engagieren. Wir werden ihnen dabei helfen. Man muss die Einwohner der Banlieues dabei unterstützen, ihre Rechte wahrzunehmen, ihnen sagen: Ihr seid vollwertige Bürger, nehmt euren Stimmzettel und geht wählen! Nehmt am öffentlichen Leben teil!

Wieso nehmen die Jugendlichen diese Möglichkeiten nicht wahr?

Seit rund 15 Jahren beobachten wir, dass die Zahl derer, die bereit sind, sich politisch zu engagieren, ständig abnimmt. Die Menschen sind mit ihren alltäglichen Problemen beschäftigt und müssen sehen, wie sie finanziell über die Runden kommen. Die Jugendlichen an sich zu binden, fällt den Parteien sehr schwer. Am ehesten sind noch die Rentner für die Arbeit an der Basis zu haben.

Woran liegt das?

Politiker haben andere Ziele als gemeinnützige Organisationen. In erster Linie verkünden sie verschiedene Überzeugungen und vertreten ein politisches Programm. Als Politiker und als Aktivist hat man zwar die Möglichkeit, Versammlungen und Streiks zu organisieren. Aber wir bieten den Bürgern keine unmittelbaren Dienstleistungen an, anders als gemeinnützige Organisationen, die zum Beispiel Alphabetisierungskurse organisieren.

Seitdem der Ausnahmezustand verhängt worden ist, ist die Gewalt spürbar zurückgegangen. Warum hat sich Attac gegen diese Maßnahme ausgesprochen?

Der Ausnahmezustand ist von einer rechten Regierung verhängt worden, die zur extremen Rechten tendiert und in Le Pens Gehege nach Wählerstimmen jagt. Das Ende der Gewalt verdanken wir aber keineswegs der verstärkten Präsenz der Polizei. Der Frieden ist wieder eingekehrt, weil lokale Organisationen zusammen mit den Kommunen und den Einwohnern angemessen reagiert haben. Die Staatsgewalt war nicht maßgeblich an der Deeskalation beteiligt. Was wir brauchen, ist keine Repression, sondern einen Staat, der seinen Bürgern Ausbildung, Gesundheit und Wohlstand garantiert.

interview: sophie feyder und gilles bouché