Die Agentur ist ein Stalker

Die Empfänger des Arbeitslosengeldes II haben praktisch kein Recht auf Privatsphäre mehr. von sonja fahrenhorst

Sein Leid scheint kaum auszuhalten zu sein. »Es ist leider so, dass wir öfters keinen antreffen und so eigentlich für uns auch kostbare Zeit vertun«, sagt der Hartz-IV-Kontrolleur Hartmut Seelmann dem MDR. »Wieder nichts, höchstwahrscheinlich!« Es ist nicht zu fassen. Die Arbeitslosen erdreisten sich, nicht zu Hause zu sein, wenn Seelmann klingelt, auf dem die »Hoffnungen der Nation« lasten, wie der Fernsehsender meint.

Seit ein paar Wochen steht fest, wer schuld ist an den unerwarteten Mehrkosten der Hartz-IV-Reform: selbstverständlich die Empfänger des Arbeitslosengeldes II! Seit der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) »Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat« beklagte und ein härteres Vorgehen gegen Arbeitslose forderte, die angeblich zu Unrecht Mittel des Staates erschleichen, vergeht kein Tag, an dem nicht in den Medien über die Hartz-IV-Kontrollen, den »Kontrolleursfrust« (MDR) und die angeblichen Taktiken und Strategien der Arbeitslosen berichtet wird.

Zusätzliche 6,5 Milliarden Euro musste der Bund bis Ende Oktober für das Arbeitslosengeld II aufwenden. Und die Kostenverursacher stehen offenbar nicht Gewehr bei Fuß. Bei einer von der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Auftrag gegebenen telefonischen Kontrollaktion, die vom 20. Juli bis 23. September durchgeführt wurde, seien von 390 000 kontrollierten Haushalten 170 000 kein einziges Mal erreichbar gewesen. 43 000 Haushalte hätten, nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit, die Teilnahme an einer freiwilligen Befragung sogar verweigert. Obwohl gegen eine Nichtbeantwortung von Telefonbefragungen juristisch nichts einzuwenden ist, war für Clement klar: Etwa 20 Prozent der Empfänger von Arbeitslosengeld II müssten »Parasiten« und »Abzocker« sein, die den gesellschaftlichen Reichtum »verfrühstücken« und sich auf Kosten des Sozialstaats bereicherten. So formulierte er es in dem Vorwort zum Bericht des Wirtschaftsministeriums.

Der Schluss, der daraus gezogen wurde, lautete: Die Kontrollen müssen ausgeweitet werden, um den »Missbrauch« im großen Maßstab ein für allemal zu stoppen. »Hartz-IV-Schmarotzer – Es macht so wütend!« titelte die Bild-Zeitung und gab den Auftakt auch zur medialen Hatz gegen Hartz-IV-Empfänger.

Ehrliche Empfänger von Arbeitslosengeld II scheint es hierzulande nicht mehr zu geben, alle stehen unter Verdacht, den Staat zu betrügen. Elvira S., 34, aus Oldenburg beschreibt ihre Erfahrungen mit diesem Vorurteil auf der Internetseite eines Arbeitslosenforums: »Ich hatte letzte Woche einen unangemeldeten Hausbesuch von zwei Kontrolleuren des Jobcenters, so genannten Prüfdiensten. Die Kontrolleure sind ohne meine Erlaubnis an meine Schränke gegangen. Nur weil ich fast meine gesamte Garderobe zum Waschen gegeben hatte, wurde mir dann unterstellt, dass ich eine Scheinwohnung hätte. Auch weil in meiner Küche eine Tasche mit Gläsern stand, die meine ältere Schwester mir geschenkt hatte, und im Schlafzimmer ein Fernseher mit aufgerolltem Kabel, waren sie sich sicher, ich würde die Bundesagentur betrügen. Leider hatte ich keine Zeugen für den Besuch.«

Der Einsatz von »Prüfdiensten« ist eine regionale Angelegenheit und den jeweiligen Jobcentern selbst überlassen. Sie bestimmen, wie viele Kontrolleure eingesetzt werden, wer kontrolliert wird und wie die Kontrollen auszusehen haben. »Natürlich müssen die ALG-II-Empfänger die Kontrolleure nicht ins Haus lassen«, sagt eine Mitarbeiterin des Jobcenters in Berlin-Lichtenberg der Jungle World. »Aber es ist wohl jedem klar, dass derjenige, der sich einer Visite des Prüfdienstes verweigert, sich nur noch verdächtiger macht und folglich mit erhöhter Wachsamkeit behandelt wird.« Früher hätte man das als Erpressung bezeichnet.

In ihrem Jobcenter habe man seit Sommer dieses Jahres keine neuen Sozialprüfer mehr eingestellt, erläutert die Mitarbeiterin. Die vier Prüfer, ehemalige Außendienstmitarbeiter des Sozialamts, kontrollierten jeden Tag und aus verschiedenen Anlässen. Doch angesichts der horrenden Anzahl von täglichen Neuanträgen könne man eventuellem Missbrauch nur sehr schwer beikommen, sagt sie.

Um den angeblichen massenhaften Missbrauch in den Griff zu bekommen, droht die neue Bundesregierung den Arbeitslosen bereits mit einer Ausweitung der Telefonkontrollen. Per Gesetz sollen die Bezieher von Arbeitslosengeld II künftig verpflichtet werden, am Telefon Auskünfte über ihre Lebensumstände zu geben; dies geschieht bisher nur freiwillig. Gefragt wird aber schon jetzt, oftmals in den frühen Morgenstunden, ob man dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe, ob man krank geschrieben sei, ob man sofort arbeiten könne. Meist unterbleibt der Hinweis, dass diese Angaben derzeit noch freillig geleistet werden.

Wer nicht ans Telefon geht, macht sich bereits verdächtig. Ole M., ein arbeitsloser Maler aus Neukölln, berichtet der Jungle World, er habe vor kurzem einen Brief von seinem Betreuer aus dem Jobcenter bekommen. Man habe mehrere Tage mehrmals vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Dass er seinem Kumpel beim Renovieren geholfen habe, sei der Agentur egal gewesen. Er habe für sie zur Verfügung zu stehen, hieß es auf seine Nachfrage. Von nun an werde man ein besonderes Auge auf ihn haben. »Ich muss ja nicht 24 Stunden am Stück zu Hause sitzen«, meint Ole, »auch wenn ich morgens gehe und erst abends wieder komme, bin ich denen keine Rechenschaft schuldig.« Vielleicht aber doch.

Die Bundesregierung hat zudem bereits eine weitere, nicht weniger beliebige Datenerhebung angekündigt: den regelmäßigen und verstärkten Datenabgleich der Bundesagentur und des Verbandes der Rentenversicherungsträger. Mit dieser Art von »Rasterfahndung« soll festgestellt werden, ob ein Empfänger von Arbeitslosengeld II noch eine gesetzliche Rente bezieht, an einem anderen Ort versicherungspflichtig beschäftigt ist oder Zinseinkünfte erzielt. Die ersten Ergebnisse eines Abgleichs von fünf Millionen Datensätzen erwartet die Bundesagentur für Dezember.

Für nächstes Jahr ist vorgesehen, die derzeitige Rechtsgrundlage für weitere Computerabfragen zu schaffen. So soll bald auch ermittelt werden können, ob Bezieher von Arbeitslosengeld II im Ausland verschwiegene Konten und Depots unterhalten. Vertragliche Regelungen sind etwa mit der Türkei vorgesehen, um den Datenabgleich herstellen zu können. So sollen Angaben über ein Vermögen von in Deutschland lebenden Hartz-IV-Empfängern in der Türkei dem Bundesamt für Finanzen übermittelt werden. Bankgeheimnisse, Datenschutz, das Recht auf Privatsphäre, all das existiert praktisch für die Empfänger des staatlichen Almosens nicht mehr.