Hieb- und Stichwahl

Mit Bestechung und Schlägertrupps manipulierte das ägyptische Regime die Parlamentswahlen. Dennoch gewann die Muslimbruderschaft zahlreiche Sitze. von mahmoud tawfik, alexandria

Kurz nach Öffnung der Wahllokale in der Küstenstadt Alexandria ist die Lage noch ruhig. Ich treffe einige Kollegen, gemeinsam wollen wir den Verlauf der zweiten Phase der ägyptischen Parlamentswahlen beobachten. Die Erfahrungen der ersten Runde deuteten darauf hin, dass die regierende Nationaldemokratische Partei durch Bestechung von Wählern, Manipulationen bei der Auszählung und Gewalt gegen Oppositionelle ihr Machtmonopol erhalten will.

Das ist nichts Neues in der ägyptischen Politik, Reformen und Demokratisierung werden immer wieder versprochen, doch das Regime Hosni Mubaraks bekämpft die politische Konkurrenz mit allen Mitteln. Umso überraschender waren die Siege der Muslimbruderschaft, die in den ersten beiden Wahlrunden 47 Mandate gewann. Die islamistische Organisation ist seit 1954 verboten, immer wieder gibt es Massenverhaftungen unter ihren Anhängern. Dennoch scheint den Muslimbrüdern bei diesen Wahlen der siegreiche Einzug ins Parlament »gestattet« worden zu sein, während der Rest der Opposition schmerzhafte Niederlagen einstecken muss.

Erste Meldungen über Ausschreitungen führen uns zu einem Wahllokal im Bezirk al-Gumruk. Vor dem Lokal hat sich eine Menschenmenge versammelt. Der Eingang wird von einer Handvoll Schlägern versperrt, die mit Säbeln und großen Fleischermessern bewaffnet sind. Hineingelassen werden nur Wähler der Regierungspartei, ein großer Teil von ihnen hat zuvor einige Meter entfernt für seine Stimmabgabe ein paar ägyptische Pfund kassiert.

Als Journalisten dürfen wir rein. Einer der »Türsteher« bekommt anscheinend Gewissensbisse. Im Vorbeigehen flüstert er uns zu: »Die Sicherheitsbehörden haben uns dazu gezwungen. Sie haben uns die Waffen besorgt. Sie haben uns ein bisschen Geld und Drogen gegeben. Und sie haben uns mit Haftstrafen gedroht.« Warum greift die neben den Urnen postierte Polizei nicht ein? »Wir sind nur für die Sicherheit innerhalb des Wahllokals verantwortlich.«

Draußen kommt es inzwischen zu Keilereien zwischen den Schlägern und Anhängern der Muslimbruderschaft. Anderswo geht es noch brutaler zu. Am Telefon berichten uns Wahlbeobachter von Schlägertrupps, die auf anstehende Wähler losgehen und Autos zertrümmern, im Bezirk al-Raml versprühen die Sicherheitskräfte Tränengas und schließen vorübergehend alle Wahllokale.

Wir machen einen Zwischenstopp in der Anwaltskammer von Alexandria. Ihre Mitglieder sind überall in der Stadt unterwegs, um Wahlvergehen zu registrieren. »Das ist dasselbe Szenario wie bei den Wahlen 2000«, sagt Abdel Aziz al-Derini, der die Wahlbeobachtung der Kammer koordiniert. »Die Regierungspartei kauft Stimmen. Rowdies und Sicherheitskräfte terrorisieren Wähler. Bisher gab es ein Todesopfer und zahlreiche Verletzte, darunter z.B. zwei Anghörige des Kandidaten der Muslimbruderschaft im Bezirk Karmuz.«

Beim Verlassen der Anwaltskammer treffen wir Hossam Tamam, er ist Journalist und Experte in Sachen Muslimbruderschaft. »Es finden doch hier keine wirklichen Veränderungen statt«, meint Tamam. »Die Regierungspartei hat weiterhin das Sagen.« Was die Erfolge der Muslimbrüder angeht, so versuche das Regime offensichtlich, mehrere seiner Probleme auf einmal zu lösen. Ihnen Parlamentssitze zuzugestehen, sei ein Versuch, die Islamisten zu domestizieren und ihrer Bewegung den rebellischen Glanz zu nehmen. Gleichzeitig verunsichere dies die säkulare Opposition zutiefst. »So schwächt die Regierung die Opposition insgesamt und spaltet sie«, fährt Tamam fort. »Und nehmen wir mal an, die Bruderschaft gewinnt 100 Mandate, von insgesamt 454 – so what? Das ist alles politisches Kalkül der regierenden Nationaldemokraten.«

In der Tat: Gab es vor der Wahl hier und da noch Koordinationsversuche zwischen Islamisten und der sogenannten säkularen Opposition, so fürchten nun manche einen Islamistenstaat mehr als das Regime Mubaraks. Andere sehen beide sogar in unheiliger Allianz vereint, Gerüchte über eine Pakt zwischen Nationaldemokraten und Islamisten werden immer lauter.

Die nächste Station ist Karmuz, ein besonders heißes Pflaster, ein Armenviertel, in dem Kandidaten aller Couleur um Mandate ringen. Vor dem Bezirksbüro der liberalen al-Ghad-Partei kämpfen wir uns durch eine aufgebrachte Menge von Parteianhängern. Jeder möchte der Presse von den Ereignissen des Tages berichten, Männer und Kinder zeigen Stich- und Schusswunden oder erzählen von Heldentaten im Kampf gegen die Schlägertrupps der Regierung.

Ayman Nour, der Parteichef der al-Ghad, hatte bei den ebenfalls manipulierten Präsidentschaftswahlen im September mit sieben Prozent das beste Ergebnis der Oppositionskandidaten erzielt. Doch al-Ghad ist mittlerweile politisch so gut wie bankrott. Verantwortlich seien jedoch nicht nur parteiinterne Streitereien, sagt Mohsen Abbud, Parteisekretär in Alexandria. »Alles, was bis heute passiert ist, zeigt ganz klar, dass die al-Ghad-Partei fertiggemacht werden soll, damit die Regierung weiterhin nach Belieben Oppositionelle im Parlament platzieren kann.« Seine Partei beobachte mit Beunruhigung den Vormarsch der Muslimbrüder. Diese hätten einen großen Fehler begangen, als sie sich auf das Spiel der Regierung einließen. »Wofür? Für die paar Sitze, das sind doch nur Krümel!«

Ein paar Straßen weiter besuchen wir das Büro von Abul Ezz al-Hariri, Kandidat der linksnationalistischen Partei al-Tagammu, einer der wenigen Oppositionellen, die auch im letzten Parlament schon ein Mandat besaßen. Auch hier müssen wir uns durch eine aufgeregte Menge hindurcharbeiten. Diesmal ist der Weg jedoch um einiges beschwerlicher, denn Hariris Büro befindet sich nebem einem Wahllokal, vor dem es gerade wieder zu blutigen Auseinandersetzungen kommt. Wir können kaum zwei Worte mit dem Kandidaten wechseln, schon hat sich eine so große Menschenmenge um uns versammelt, dass wir fürchten, die Aufmerksamkeit der Schläger auf uns zu ziehen. »Hören sie«, kann Hariri das Gespäch noch beenden, »dieses Land ist eine tickende Zeitbombe. Und ich habe das den Kollegen schon im letzten Parlament gesagt: Entscheidungen werden jetzt auf der Straße getroffen. Ihr habt überhaupt nichts mehr zu sagen!«

Nach der Schließung der Wahllokale besuchen wir Bab Sharki. Im Polizeirevier findet die Auszählung statt. Draußen haben sich, wie schon an zahlreichen Auszählungsorten während des ersten Wahlgangs, hunderte Anhänger der Muslimbruderschaft versammelt. Aus ihren Lautsprechern tönen religiöse Chöre oder Gebete für ihren Kandidaten, den Islam und die Bruderschaft.

Der Siegeszug der Bruderschaft hält an, ihre Kandidaten gewannen in hart umkämpften Bezirken Alexandrias. Das rabiate Vorgehen gegen Anhänger der Muslimbruderschaft scheint zwar gegen ein Arrangement mit dem Regime zu sprechen, doch ungeachtet der staatlichen Repressionskampagnen gab es in der Vergangenheit immer wieder taktische Absprachen mit den Islamisten. Sicher ist jedenfalls bereits vor der dritten und letzten Wahlrunde, dass die Muslimbrüder die stärkste Oppositionsfraktion sein werden, während sich die säkularen Gegner des Regimes mehr und mehr vom Parlament abwenden.