Alles halb so wild gewesen?

Nicht alle Befürchtungen über die deutsche Wiedervereinigung haben sich bewahrheitet. Dennoch gibt es allen Grund, sich der nationalen Idiotie zu verweigern. von detlef zum winkel

Der amerikanische Schriftsteller Philip Roth, Zweitplatziertester aller Zeiten bei der Vergabe des Nobelpreises für Literatur, hätte ein guter Radrennfahrer werden können. Im Jahr 1995, in seinem Roman »Sabbaths Theater«, ließ er einen seiner Helden eine Tour der Leiden erdulden, wie er sie selbst beim Schreiben durchlebt haben muss. Und doch rafft sich der Autor zu einem einzigartigen Schlussspurt auf, um die Ziellinie mit einem Satz zu überqueren, der an Leserfeindlichkeit, Misanthropie und Antiamerikanismus kaum zu überbieten ist: »Alles, was er hasste, war hier.«

Es sind nicht deutsche Verhältnisse, die mit diesem Satz gemeint sind. Trotzdem fällt er mir ein, um mit wenigen Worten zu beschreiben, was vor gut 15 Jahren zum Entstehen einer neuen linken Fraktion hierzulande geführt hat.

Diese Opposition gegen die deutsche Wiedervereinigung entzündete sich nicht an den Modalitäten oder gar an den Kosten jenes Prozesses, und sie hatte auch wirklich nichts dagegen, dass die Berliner Mauer eingerissen wurde. Sie begann, als die Montagsdemonstrationen von Leipzig, mit denen das Ende der DDR eingeläutet wurde, ihre Botschaft änderten, als aus der trotzigen Parole »Wir sind das Volk« in Leipzig und in ganz Deutschland »Wir sind ein Volk!« wurde.

Ob ihnen die Veränderung überhaupt bewusst wurde? Den Leuten von Leipzig kam das vielleicht nur wie eine kleine Verschiebung vor, eine logische Fortsetzung dessen, was sie begonnen hatten. Man weiß es nicht, denn sie reden ja nicht darüber.

Uns westlichen Linken hingegen konnte man alles Mögliche vorwerfen: Sektierertum (wie üblich), Besserwisserei (wie üblich), Weltfremdheit (wie üblich) usw. Aber nicht, dass wir nicht mit dem Herzen dabei gewesen wären. Wir waren geschockt. Bekanntlich sind wir schon in jungen Jahren einer gründlichen Umerziehung durch unsere amerikanischen Besatzer unterzogen worden, weshalb uns unser feeling sagte, dass hier etwas Nationales aufkomme. Etwas stramm Deutsches, Völkisches. Ein schlimmes Wort! Aber warum soll ich lügen? Was dachte denn der damalige Westberliner Bürgermeister Walter Momper, als er am Tag nach dem Mauerfall seinen roten Schal um den Hals schlang und vom Volk der DDR und dem Volk der Bundesrepublik sprach? Prompt gab es eine Zurechtweisung in der Boulevardpresse: »Momper: zwei Völker!«, und bis zum heutigen Tag war ihm, stellvertretend für viele, das Maul gestopft. Er redet auch nicht darüber.

Wir waren nicht die einzigen, die Böses dabei dachten. Wer ein Volk sein wollte, musste auch wissen, um welches es sich handeln würde. So schlecht ist der Geschichtsunterricht in beiden deutschen Staaten doch nicht gewesen. Aber der nimmermüde Realpolitiker, erst recht der linke, verfügt über ein reiches Ins­trumentarium, das ihm hilft, die Gespenster hinwegzudiskutieren. Wie kann man sich gegen die Straße stellen, gegen das eigene Volk? Gegen das Tempo der Entwicklung. Gegen die Zeit als solche! Wer das tut, gibt doch jeden politischen Anspruch auf!

So war es nur eine kleine radikale Minderheit, die nicht zusammenwachsen wollte, wohl wissend, dass die anderen zusammengehörten. Irgendjemand fand heraus, dass Marlene Dietrich einmal »Nie wieder Deutschland« gesagt hatte. Das war ein charmantes Leitmotiv, und passend war auch das Etikett, das man uns sogleich anheftete: »antideutsch«. Es wäre ziemlich umständlich, wollte man diese Begriffe mit einer korrekten politischen Definition versehen. Dafür haben sie den Vorteil, intuitiv der Verständigung zu dienen. Wir wussten, dass wir dem Volk nichts zu sagen hatten. Das Volk wusste, dass es das nicht hören wollte. In dieser Hinsicht waren wir nicht weit auseinander.

Schnee von gestern, na klar; Gegenstand mehrerer Doktorarbeiten, die im Internet vor sich hinschlummern. Allerdings gab es die Ereignisse von Hoyerswerda, Rostock, Solingen, Lübeck. Es gab brennende Wohnungen und das »Klatschen« von Vietnamesen, und im Wahlkreis der heutigen Bundeskanzlerin spendete das Volk am Straßenrand Beifall. Dennoch wird niemand behaupten, dass sich Befürchtungen von einem »Vierten Reich« bewahrheitet hätten. Zum Glück verläuft die Geschichte immer noch dialektisch, und sie bescherte uns stattdessen eine rot-grüne Koa­lition, die Traumkonstellation aller »68er«. Alles halb so wild gewesen? Passiert ist nur das Übliche. Das Übliche heißt, dass das Volk heute gegen Israel ist.

Nach aktuellen Umfragen glaubt eine deutliche Mehrheit der Europäer, dass die israelische Politik die größte Gefahr für den Weltfrieden sei. Die Bundesrepublik liegt dabei im Trend. Ein Zwerg unter den Staaten der Welt unterdrückt nicht nur einige hundert Millionen Muslime. Er bedroht auch den legendären europäischen Pazifismus und die deutsche Gemütlichkeit.

In ganz Europa offenbaren die genannten Umfragen typische antisemitische Denkmuster. Es handelt sich um die bekannten Wahnvorstellungen, gefeit gegen jeden Realitätsbezug: die jüdische Lobby in den USA, die geheimen Hintermänner der Globalisierung usw. Früher galten sie dem »heimatlosen Juden«, der in der Wall Street ebenso zuhause war wie in der Kommunistischen Internationale, heute kristallisieren sie sich am Staat Israel.

So hat auch der deutsche Stammtisch ein Terrain gefunden, auf dem er seine Ressentiments ausleben kann. Man wird doch wohl noch Israel kritisieren dürfen?! Natürlich. Dagegen lässt sich nichts einwenden. Fragt man aber, was uns Israel eigentlich getan hat, bekommt man zur Antwort: »Dieser Friedman nervt mit seinem dauernden Gerede von der Nazizeit. Wie der schon aussieht. Und außerdem hat er Drogen genommen.«

Wir haben es also nicht mit einer begründeten, berechtigten oder unberechtigten Ablehnung der israelischen Politik zu tun, sondern mit einem Gefühlsgemisch, mit welchem die bloße Existenz dieses Staates als extrem unangenehme Erinnerung an die deutschen Verbrechen empfunden wird. Die klassische Kurzform, diesen Mischmasch auszudrücken, stammt vom früheren bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß: »Ein Volk, das solche Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, nicht dauernd an Auschwitz erinnert zu werden.« Immerhin galt dies einmal als rechtsradikal.

Den ehemaligen rot-grünen Koalitionären, die das Land in den Jahren regierten, in denen sich die Aggres­sivität gegen Israel outete, wird es schwer fallen, die Mitverantwortung dafür von sich zu weisen. Dennoch glaube ich, dass sich diese Entwicklung auch unter andersfarbigen Regierungen vollzogen hätte. Hier sind mächtigere Triebe am Werk, die sich durch einen Koalitionswechsel nicht beeinflussen lassen und die auch durch monströse Terroranschläge nur kurzfristig irritiert werden.

Eine präzise politische Verantwortung lässt sich allerdings festmachen. Und zwar an Franz Müntefering und denjenigen Sozialdemokraten, die die Metapher von den »Heuschrecken« in Umlauf brachten, um damit vage ausländische Investoren zu bezeichnen, die deutschen Unternehmen und deutscher Wertarbeit den Garaus machten. Wer sein Volk kennt, weiß, wie es ­diese Metapher übersetzt, zumal die ­fertige Übersetzung im Archiv liegt. Müntefering hat damit dem Antisemitismus eine weitere Tür geöffnet. Zur nationalen Demagogie – ausgerechnet Israel soll den Weltfrieden gefährden – gesellt sich die soziale Demagogie – ausgerechnet ausländische Investoren sollen die Schuld an fünf Millionen Arbeitslosen haben. Bemerkenswert ist der Erfolg der natio­nal-sozialen Politik, der die SPD vor dem schon sicher geglaubten Absturz rettete.

In der alten Bundesrepublik hatte man es mit einem ständigen Anteil von 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung zu tun, der sich antisemitische und nazistische Auffassungen zueigen machte. Deshalb sprach man auch von einem »Bodensatz der Gesellschaft«, von einem Restbestand, der unseren demokratischen Kaffee nur dann störte, wenn man zu tief hineinstocherte.

In der Zwischenzeit ist zu viel geschehen, als dass dieses Bild noch passen würde. In immer kürzeren Abständen wurden wir mit offiziellen und offiziösen Kampagnen eingedeckt, die einen positiven Zugang zu Deutschland und seiner Geschichte eröffnen sollten. Jede Regierung bemühte Historiker, Schriftsteller, Filmemacher, Philosophen und den jeweiligen Bundespräsidenten. Gegenwärtig ist es die versammelte Medienprominenz, die die nächste Identifikation mit Deutschland betreibt. Die nationale Idiotie macht nicht einmal davor halt, eine deutsche Bank zu fordern, nur weil das gleichnamige Geldinstitut derzeit von einem Schweizer geleitet wird. Und die neue Linkspartei sieht den deutschen Familienvater durch »Fremdarbeiter« bedrängt. Gewiss, es war »nur« Oskar Lafontaine. Aber wie die sich damit auseinandergesetzt haben …

Die Anlässe sprechen nicht dafür, den antideutschen Politikansatz an den Nagel zu hängen. Ich sehe nicht, was daran inhaltlich überholt wäre. Das ist aber auch nicht das Problem. Unser Problem ist die praktische Hilflosigkeit, mit der wir dieser Entwicklung gegenüberstehen. Man schreibt einen Leserbrief, verfasst einen Artikel, unterschreibt einen Aufruf, nimmt an einer Demonstration teil. Fast immer ohne Wirkung. Nur kann der Ekel nicht das alleinige Ziel politischer Aufklärung sein, ebenso wenig die Selbstvergewisserung.

Diejenigen, die heute das Label »antideutsch« repräsentieren, haben einen Ausweg mit provokativen Aktionen versucht. Man hat bei einigen möglichen und einigen unmöglichen Gelegenheiten die amerikanische Flagge gehisst und die Außenpolitik der US-Administration so wohlwollend interpretiert, wie es nur geht. Dieses Ritual wurde so oft wiederholt, dass sich mancher Betrachter nicht mehr sicher ist, ob es sich bei den Akteuren nicht um eine amerikanische Bürgerinitiative handelt. So schlimm ist es aber noch nicht in Europa, dass wir unsere Freund­schaft zu George W. Bush erklären müssten. Vielmehr zeigt sich auch in diesen Aktivitäten die allgemeine Unfähigkeit zu außerparlamentarischer Opposition. Das meint: außerparlamentarische Politik, die sowieso zur Minorität verurteilt und damit auch einverstanden ist. Was nicht bedeuten muss, dass sie ohne Wirkung bliebe.