Ein Diener aus Passion

Pflichtschuldig führt Wolfgang Schäuble das Werk Otto Schilys fort. Er wird nicht ruhen, bis aus »den Deutschen« eine wahre »Schicksalsgemeinschaft« geworden ist. von thomas uwer

Wer meint, die Hölle bestehe noch immer aus Folterqualen und lodernden Flammen, der irrt. Wo immer sich bürgerliche Verhältnisse etabliert haben, wurden die körperlichen Qualen abgelöst, ersetzen entfremdeter All­tag und Zeitdiktat den Dreschflegel und die Feuerzange, mit denen die Armeen der Hölle noch bei Pieter Bruegel d.Ä. die Menschen quälten. Strafe besteht nunmehr im Entzug des Rests an Freiheit, über die eigene Zeit zu bestimmen, und »Hölle« bezeichnet die Vorstellung einer nicht enden wollenden Zeitschleife, die beständige Wiederkehr des Immergleichen, einen Alltag ohne Aussicht auf Erlösung. Wenn es eine solche Hölle gibt, dann ist Wolfgang Schäuble ihr Vorsteher.

Dass Freiheit zugleich Verantwortung bedeu­te, Verantwortung aber mit Demut zu tragen sei, muss bereits ins Kopfkissen des Knaben Schäuble eingestickt gestanden haben. In tausenderlei Varianten enthüllt Wolfgang Schäuble seit den frühesten Aufzeichnungen die Unzu­ver­lässigkeit der »verbreiteten Parole« des »any­thing goes« und fordert »eine gemeinsame Wer­te­grundlage«. Freiheit bedeute »Rech­te und Pflichten und die Bereitschaft, ihre Durchsetzung zu ertragen«. »Nächstenliebe, Opferbereitschaft, Treue, Pietät, Wahrhaftigkeit« bilden ein »tiefer gegründetes und weiter reichendes Fundament« in einer Welt, in der »überlieferte Lebensentwürfe an Prägekraft verlieren, traditionelle Hierarchien überwunden sind, kulturelle Einflüsse vielfältiger werden und Werthal­tungen differenzierter«.

»Zwischen dem 9.11. und dem 11.9. liegt eine Phase der Universalisierung des westlichen Ge­sellschaftsbildes, die im Nachhinein wohl zu am­bitioniert und auch zu rücksichtslos erscheint«, schreibt er in seinem Buch »Scheitert der Westen?«. Denn wo nur Freiheit ohne Pflicht, wo »Zeitgeist« statt »Zusammenhalt« herrscht, geraten Menschen auf die schiefe Bahn. »Ohne Grenzen kann der Mensch nicht leben«, »der Mensch braucht auch Vertrautes. Politisch bleibt die Zugehörigkeit zur Nation die wichtigste Identifikationsebene.« Mitte der neunziger Jah­re findet er endlich das passende Rubrum, das die protestantische Pflicht­ethik Schäublescher Prä­gung seitdem einleitet: die »Schicksals­gemeinschaft«.

Wolfgang Schäuble ist ein Meister der Unterordnung – unter den Staat, unter den Parteivorsitzenden Kohl, unter die »Schicksalsgemeinschaft der Deutschen«. Schäuble ist Demut. Im Süddeutschen dient er beim Finanzamt, in Bonn dann der Partei. Unter Kohl wird er Leiter des Kanzleramts, später Innenminister und Fraktionsvorsitzender der Union. Angesichts der deutschen Vereinigung, an deren vertraglicher Ausformulierung er maß­geblich beteiligt war, empfindet er »Dankbarkeit und Stolz«. Und er hält ihnen allen die Treue, noch als ihm selbst nicht mehr Dankbarkeit gezollt wird. Er steht noch zu den Ostdeutschen, als diese bereits die PDS wählen, und wirbt in seiner Partei um Ver­ständnis dafür, dass sie sich »noch nicht ganz zuhause fühlen in der Bundes­republik«. Als er infolge seiner wider­sprüchlichen Aus­sagen vor dem Parteispendenunter­suchungsausschuss zum Rücktritt gezwungen wird, fällt er weder Kohl noch der Partei in den Rücken. Und als Angela Merkel ihn als Kanzlerkandidaten an der Parteispitze verdrängt, ordnet er sich ihr unter. Er ist, mehr noch als die Kanzlerin, der Inbegriff der Regierung Merkel, die angetreten ist mit dem Versprechen, den Gürtel enger zu schnallen, auf Luxus und Glamour zu verzichten.

Dankbarkeit zollt Schäuble auch sei­nem Vorgänger, den er gegen alle Vor­würfe angesichts der Verhöre deutscher Ermittler in Guantánamo Bay und Syrien verteidigt. Eine Dankbarkeit, die Otto Schily sich allerdings verdient hat. Sieht man einmal von Schäubles persönlichem Steckenpferd, dem Einsatz der Bundeswehr im Inland, ab, so findet sich kaum ein Vorhaben der großen Koali­tion im Bereich der so genannten Inneren Sicherheit, das nicht unter der Vorgängerregierung entweder bereits auf den Weg gebracht oder doch zumindest vorbereitet wurde. Von der Einführung biometrischer Ausweise über die Ausweitung geheimdienst­licher Kontrollbefugnisse, das automatisierte Kontenabrufverfahren, die Sicherheits­überprüfungen von Beschäftigten in »lebens- oder verteidigungswichtigen« Einrichtungen und die Zentralisierung der Polizeibehörden bis zur Vorverlagerung der Strafbarkeit in den Bereich so genannter Organisationsdelikte (§ 129 b StGB) wurden die wesent­lichen Schritte bereits in den vergangenen Jahren vollzogen.

Wolfgang Schäuble mag die Verwertung von Informationen rechtfertigen, die Ermitt­ler von Gefangenen in Folterstaaten wie Syrien erhalten haben. Durchgeführt wurden solche Befragungen aber in der Amtszeit seines Vorgängers. Und wenn der Bun­des­innenminister heute einen vorbeugenden Freiheitsentzug für diejenigen fordert, die unter dem Verdacht stehen, ein Ausbildungs­camp in Afghanistan besucht zu haben, so ist auch dies lediglich die Fortsetzung der bereits existierenden Assoziations- oder Or­ganisationsdelikte, die nicht Handlungen, sondern die vermeintliche Zugehörigkeit unter Strafe stellen.

Einzig die geplante Einführung einer Kronzeugenregelung geht substanziell über die Sicherheitsmaßnahmen der Vorgängerregierung hinaus, und auch hier handelt es sich um die Neuauflage eines bereits vor Jahren gescheiterten Modells. Schäuble wäre nicht Schäuble, würde er Ideenreichtum und Veränderungswillen fördern.

Zur Demut gehört allerdings auch die Pflicht. In ganz anderen Bereichen als der öffentlichkeitswirksamen »Terror-Bekämpfung« sind Änderungen geplant, die Rechtsbrecher und unzuverlässige Zeitgenossen an die Pflicht zur Norm erinnern sollen. Die Einführung der Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende beispielsweise gehört dem Koalitionsvertrag zufolge dazu. Gegen besseres Wissen wur­de der Strafvollzug vor allem in den unionsregierten Ländern in den vergangenen Jahren bereits kontinuierlich verschärft und der Verwahrvollzug ausgebaut. Dahinter steht die Überzeugung, dass man Bürgern Pflichterfüllung abverlangen könne und dass Rechte und Pflichten zusammengehören. Wer gewisse ihm auferlegte Pflichten nicht erfülle, verliere folglich zugleich auch seine Rechte. Die »Schicksalsgemeinschaft« vor solchen Kriminellen zu schützen, wird als erste Pflicht des Staats verstanden. Auch hier ist Schäuble nicht der Stifter der Idee, sondern lediglich ihr Diener.

Wolfgang Schäuble ist ein Diener aus Passion, und als solcher verlangt er Pflichterfüllung auch allen anderen ab. Erst im Dienen finden sie zusammen. »Freiheit hängt notwendig mit Gemeinschaft zusammen«, orakelt er in einem Vortrag vor der Evangelischen Akademie Tutzing. »Deswegen gehört neben der Übereinstimmung in grund­legenden Wertefragen auch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, die Identität.« Mehr, als dass »die Deutschen« sich in diese Gemeinschaft einfinden mögen, will Wolfgang Schäuble nicht erreichen. Denn »auf schlechte Bürger ist eine Freiheitsordnung dauerhaft nicht zu gründen«.

Solchen Unsinn aber täglich hören zu müssen, das ist die Hölle. Der Himmel, lehrt uns Wolfgang Schäuble, ist nicht nur eine Welt ohne Diener, sondern auch ohne Innenminister.