Alle unter einem Strohdach

Fünf Tage bietet das Weltsozialforum in Mali, um über die vielen sozialen Probleme Afrikas zu diskutieren. Für die Jungle World war bernhard schmid dort

Stöckelschuhe! Mindestens ein Dutzend Paar Stöckelschuhe fallen polternd aus dem geöffneten Koffer der Dame, die in der Warteschlange vor mir steht. Ob es sich nun um Eigenbedarf handelt oder ob sie sämtliche weiblichen Verwandten in Burkina Faso damit eindecken will – der Angestellte von Air Burkina ist sichtlich genervt, da Madame den Verkehr aufhält. Aber dann klappt es doch noch mit der Abfertigung, und ohne jede Verspätung hebt das Flugzeug in den grauen und verregneten Himmel über Paris-Orly ab. In den kommenden Flugstunden klart es auf, und unten ziehen die rötlich-grauen Weiten der algerischen Sahara vorbei. Nach fünfeinhalb Stunden vernehme ich die Ansage zur Ankunft in Ouagadougou: »Die Außentemperatur beträgt 32 Grad.« Das hört man gerne.

Eine gute Stunde Aufenthalt in einer kleinen Halle, die an einen Bahnhof aus der Kolonialzeit erinnert, und dann geht es weiter in Richtung Bamako, der Hauptstadt des westafrikanischen Nachbarlands Mali. Dort wird ab dem folgenden Tag einer der drei Schauplätze des »Polyzentrischen Weltsozialforums« sein. Im vorigen Jahr hatten die Veranstalter des WSF, das seit 2001 alljährlich im brasilianischen Porto Allegre und 2005 erstmals in Bombay stattfand, beschlossen, das Forum an mehreren Orten gleichzeitig abzuhalten. Viele Menschen aus Afrika oder Asien können es sich nicht leisten, für ein paar Tage nach Brasilien zu fliegen. Diesmal also drei Veranstaltungsorte: Caracas, Bamako und Karachi in Pakistan.

Mali bot sich aus mehreren Gründen an: Es handelt sich um ein Land, dessen Gesellschaft die Militärdiktatur der Jahre 1968 bis 1991 erfolgreich gestürzt hat und seitdem eine demokratische Blüte erlebt, und in dem zahlreiche Bürgerinitiativen und NGO aktiv sind. Gleichzeitig lassen sich anhand des Beispiels Mali viele der verheerenden Auswirkungen der unter anderem auf Druck von IWF und Weltbank verfolgten Privatisierungspolitik ablesen.

Unterwegs nach Bamako sieht man wegen der dichten Wolkendecke nicht viel. Dann geht die Sonne am Tropenhimmel, wie in diesen Breitengraden üblich, plötzlich und schnell unter, als ob jemand sie ausgeknipst hätte. Es ist Nacht, als ich in Bamako lande. Nun beginnt der Aufbruch ins Ungewisse, da ich keine Ahnung habe, ob ich eine Unterkunft finde, denn immerhin werden 30 000 Besucher von den Veranstaltern erwartet.

Doch in der Flughafenhalle wartet ein kleines Empfangskomitee vom WSF auf die anreisenden Teilnehmer. Haben Sie eine Reservierung für ein Hotel? Eine Herberge? Nein? Ich antworte einer 40- bis 50jährigen Frau, dass ich mich auf der Webpage des Sozialforums in Bamako eingetragen und die Option »Privatunterkunft in einer malischen Familie« gewählt habe – so was ist doch immer interessanter. Sofort schlägt Fatma Traoré ein und nimmt mich mit zu sich nach Hause.

Die Witwe ist in einer Initiative für die Förderung von Frauen- und Kinderrechten aktiv und seit Juni ehrenamtlich in der Vorbereitung tätig. Sie lebt mit ihren sechs Kindern, die schon in jugendlichem Alter sind, in einem typischen Wohngebiet: ein- bis anderthalbstöckige Backsteinhäuser mit flachem Dach, die oft von den Bewohnern selbst errichtet wurden. In einem kleinen Hinterhof stehen Mangobäume, Tamarind wird in kleinen Blumentöpfen gezogen. Die Straßen sind ungeteert, bis auf die Hauptverkehrsadern, auf denen mehr Minibusse und Motorräder als Autos fahren. Ein Ergebnis der chinesischen Wirtschaftsoffensive in Afrika und des Imports preiswerter gefälschter Yamaha-Motorräder, wie man mir sagt. Gefahren wird grundsätzlich ohne Sturzhelm, allenfalls mit Atemschutzmaske oder Wollmütze auf dem Kopf. Im Wohngebiet weiden magere Schafe und Bergziegen zwischen den Häusern. Viele Einwohner sind zum Teil auf Selbstversorgung angewiesen. Es gibt kaum Möbel, die Leute schlafen unter kunstvoll gebastelten Moskitonetz-Zelten auf Matratzen. So ein Moskitozelt erhalte ich auch, das hat doch was Beruhigendes.

Am folgenden Tag geht es zunächst zum malischen Vorbereitungskomitee. Stolz präsentiert Fatma mich (»mein Ausländer«) den Freundinnen. Dann sammeln sich die Teilnehmer vor und im Kulturpalast von Bamako. Junge Männer mit der Kopfbedeckung der Tuareg heizen auf Motorrädern durch die Gegend, sie sind wohl aus dem Norden von Mali angereist. Nach meinem ersten Eindruck kommen deutlich über 80 Prozent der Teilnehmer vom afrikanischen Kontinent.

Zwischendurch diskutiere ich mit einer dreiköpfigen Gruppe der spanischen Izquierda Unida (Vereinigte Linke) und einem Kongolesen, der in einem sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum über Zivilgesellschaft und Konflikte im südafrikanischen Durban studiert und arbeitet. Die Veranstalter scheinen vom Andrang leicht überfordert, aber ich hatte mir das organisatorische Chaos sehr viel schlimmer vorgestellt. Am Nachmittag beginnt die Auftaktdemonstration, nur wann? Die einen sagen 14, andere meinen 15, wieder andere 16 Uhr. Anscheinend wurde der Anfang wegen der Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Teilnehmerandrangs verschoben. Um halb vier schließlich bringen uns Busse zu der Demonstration, die bereits Aufstellung genommen hat.

Kaum ist unser VW-Bus am Boulevard der Unabhängigkeit angekommen, beginnt die Demo auch schon loszulaufen, ein munterer Marsch von 10 000 oder 20 000 Menschen. Auffällig sind die zahlreichen Frauengruppen und die Angehörigen der »Fair trade«-Bewegung, außerdem Gewerkschaften aus Europa und Afrika. Von den malischen Demonstranten wird vor allem auf den Widerstand gegen die 2003 erfolgte Privatisierung des Eisenbahnnetzes und seine Übernahme durch ein französisch-kanadisches Konsortium namens Transrail verwiesen, die mit der Schließung von 26 der 36 Bahnhöfe einherging und mit der Entlassung gewerkschaftlich aktiver Mitarbeiter durch Transrail. Auch der Zorn der Baumwollanbauer macht sich auf der Demo Luft. Sie sehen den Preis für ihr Produkt immer weiter unkontrolliert fallen, zugleich wurde die mit dem Verkauf dieses wichtigen Exportprodukts befasste malische Textilgesellschaft CMDT unter internationalem Druck privatisiert und von Franzosen aufgekauft, die drei Viertel der Erlöse aus dem Land abführen.

Bei der Abschlusskundgebung im Stadion von Bamako wird ein Kulturprogramm geboten, an dem Künstler aus verschiedenen Ländern des Kontinents – von Guinea bis Burundi – teilnehmen. Zu einem hässlichen Zwischenfall kommt es am Schluss der Veranstaltung, als sich Teilnehmer aus Marokko und aus der seit 1975 durch dieses Land annektierten Westsahara erst einen Flaggenstreit auf dem Rasen liefern und es anschließend fast zu einer großen Prügelei kommt. Die Polizei trennt die Kontrahenten, indem sie die Sahauris vom Rasen in die Tribünen abdrängt und die Marokkaner an der Verfolgung hindert.

Ist das die Politik des marokkanischen Sozialforums, das zu den stärksten auf dem Kontinent gehört? Michèle, die aus der französischen KP kommt und seit langem Solidaritätsarbeit für Afrika betreibt, hat Zweifel: »Nein, ich glaube, da hat auf jeden Fall auch die marokkanische Botschaft ihre Hände im Spiel gehabt. Aber es stimmt, dass sehr viele progressive Kräfte in Marokko versuchen, sich bei der Monarchie ihre Freiheit auf Kosten der Freiheit von anderen einzukaufen, indem sie eine chauvinistische Linie zum Westsaharaproblem einnehmen und glauben, dass sie deshalb ernst genommen werden.«

Am Freitagvormittag beginnen die thematischen Arbeitsgruppen. Zuerst gehe ich zum Kongresspalast, der in unmittelbarer Nähe des Niger-Ufers liegt. In einem durch Klimaanlagen völlig unterkühlten Konferenzraum im Erdgeschoss geht es um das Thema »Kriminalisierung von Migration«. Lucile Damas von Attac Marokko geht scharf mit der europäischen Politik ins Gericht, die sich durch Heuchelei und Doppelbödigkeit auszeichne. Einerseits schließe man Abkommen zur Aufhebung von Schutzbarrieren für die Ökonomien des Südens und die Durchsetzung von Freihandelsinteressen der stärkeren Nationalökonomien. Andererseits verschwinde diese Freiheitsrhetorik sofort, wenn es um den Schutz Europas vor unerwünschter Zuwanderung gehe und mache einer regelrechten »Obsession der Abwehr« Platz. Staaten wie Marokko, Tunesien, Libyen und Ägypten ließen sich vor den europäischen Karren spannen.

Da später eine weitere Debatte über Ceuta und Melilla wegen thematischer Überschneidungen annulliert wird, verfolge ich eine Veranstaltung über das so genannte afrikanische Partnerschaftsmodell Nepad und den »südafrikanischen Imperialismus auf dem Kontinent«. Eine muntere Combo aus Südafrika, bestehend aus einer Schwarzen, einem Inder und einer Weißen, schildert die Offensive der dominierenden südafrikanischen Wirtschaft im übrigen Afrika, seitdem die Barrieren des Apartheid-Boykotts gefallen sind. Es kommt zu einer kleinen Kontroverse mit Teilnehmern aus dem Senegal, von denen ein Hochschullehrer meint, eine Stärkung Südafrikas sei »als Gegengewicht zu den großen Wirtschaftsmächten wie der EU, Indien und China« positiv zu werten. Die linken Südafrikaner meinen dagegen, die aggressive Wirtschaftsoffensive erwecke bereits heute eher Ressentiments gegen das Land im übrigen Kontinent.

Draußen vor dem Kongresspalast ist ein riesengroßes Strohdach aufgebaut. Träge erheben sich in der Wärme des Nachmittags weiße Reiher von den Bäumen in Flussnähe. Einige Malier sitzen beim Essen zusammen und löffeln mit der Hand Reis mit Sauce aus einer Riesenschüssel. Ein jüngerer Mann lädt mich ein. Nach wenigen Sätzen habe ich verstanden, dass er sich als Kommunist bezeichnet. Rasch gebe ich zu verstehen, dass ich auch Kommunist sei – darüber, was genau damit gemeint ist, lässt sich ein andermal diskutieren. Er nimmt mich mit zu einer hitzigen Debatte, die unter einem Strohzelt vor den Toren des Kongresspalastes stattfindet und offenkundig von der kommunistischen Bewegung Sadi (Afrikanische Solidarität für Entwicklung und Unabhängigkeit) organisiert wird, die den Kultur- und Tourismusminister des Landes stellt, aber de facto eher oppositionell ist. Seltsamerweise taucht diese Veranstaltung in den offiziellen Programmen nicht auf. Dabei läuft hier ein Sozialforum im besten Sinne: Fast ausschließlich Malier sind gekommen, es wird in Bambara geredet und auf Französisch übersetzt. Minen- und Landarbeiter sowie arme Bauern sind zusammengekommen, die wütend ihren Protest vortragen. Hier wird auch nicht mit Kritik an der Regierung von Mali gespart, die ansonsten auf dem WSF nicht so stark ins Visier genommen wird und die das Weltsozialforum – und sei es als Devisenbringer – eher unterstützt hat.

Unglaublich schnell werden an diesem, aber auch am folgenden Tag unter dem Zelt die drängendsten sozialen Fragen behandelt. Anwohner der Goldminen berichten über die großflächigen Verseuchungen mit Quecksilber, das zum Goldabbau eingesetzt und rücksichtslos in die Landschaft geblasen wird und von damit zusammenhängenden Missbildungen an Kindern. Gewerkschafter aus den Minen erzählen von willkürlichen Verhaftungen und Gefängnisaufenthalten ihrer Kollegen, die seit sechs Monaten ohne jede offizielle Begründung inhaftiert sind. Bäuerinnen berichten, dass Wasser von ihren Feldern auf Exportkulturen von Bananen umgeleitet wird, die einheimischen Reichen gehören, die auf die Komplizenschaft von Richtern und Polizei bauen können. Die Wasserrechnungen müssen trotzdem bezahlt werden.

Am Wochenende finde ich in einem riesigen Komplex von Studentenwohnheimen und Hörsälen nach längerem Suchen den Konferenzraum, wo ein Sozialforschungszentrum aus Brasilien und eine Initiative aus Mali eine Debatte über »Banlieues und großstädtische Gewalt« anbieten. Das verspricht spannend zu werden, vor allem möchte ich wissen, wie in anderen Teilen der Welt über die Ereignisse in Frankreich im vergangenen November diskutiert wird, und welche Parallelen Brasilianer zu den Favelas ihrer Großstädte ziehen. Schon bedauere ich sehr, dass ich zu spät dran bin. Das ist aber unnötig, wie sich herausstellt, denn die Brasilianer sind gar nicht gekommen. Generell ist Lateinamerika in Bamako so gut wie gar nicht vertreten – was nicht wirklich verwundern kann, wo doch nur wenige Tage später in Caracas der Vorhang für den zweiten Teil des Weltsozialforums aufgehen wird. Aus Mali sind einige Interessierte anwesend, aber im Wesentlichen wird die Diskussion unter Leuten aus Frankreich bestritten und endet in nervigen Polemiken.

Danach will ich einer Debatte über internationale Zusammenarbeit von Gewerkschaften, die von einer senegalesischen Lehrergewerkschaft angeboten wird, lauschen. Aber auch hier sind die Referenten leider nicht gekommen. Auf dem Flur komme ich mit einem gewissen Monsieur Amrani aus Algerien ins Gespräch, der als Organisationsbezeichnung »FES« auf seinem Button stehen hat. Da ich diese Abkürzung nicht kenne, frage ich ihn, welche Gewerkschaft er vertritt. Aber er klärt mich auf, dass die Abkürzung für die Friedrich-Ebert-Stiftung stehe, die ein Büro in Algier unterhält und sich dort durch Förderprogramme und Mittelverteilung sehr massiv in Aktivitäten der »Zivilgesellschaft« einzuschalten versucht. »Da drüben steht mein Boss«, sagt Monsieur Amrani und zeigt auf einen vielleicht 50jährigen untersetzten Deutschen, der ebenfalls für die Parteistiftung der SPD arbeitet.

Inzwischen sind zahlreiche Transparente am Kongresspalast angebracht worden. »Gegen das Amalgamieren von Einwanderung und Unsicherheit« heißt es auf dem einen, auf anderen wird gegen Privatisierung protestiert. Und auf einem Transparent steht: »Die Friedrich-Ebert-Stiftung begrüßt sie zum polyzentrischen Weltsozialforum.« Die schon wieder! Langsam beginnen die Leute von der SPD-Stiftung zu nerven.

Noch viele interessante Debatten stehen bis zum Abschluss am Montag­abend auf dem Programm, darunter an herausragender Stelle die Diskussion über Perspektiven der Frauenbewegung in Nord und Süd und Augenzeugenberichte afrikanischer Migranten, die in Ceuta und Melilla am Stacheldrahtzaun scheiterten. Und überall können die deutschen Sozis ja nicht sein.