Mein Muay Thai ist besser als dein Kung Fu!

Eine Geschichte der Martial Arts und ihrer Weiterentwicklungen. von jesse-björn buckler

Porno- und Kung Fu-Filme haben ein gemeinsames Problem. Sie müssen irgendwie eine Geschichte erzählen, obwohl es doch auf etwas ganz anderes ankommt. Während uns im Pornofilm der Schlüsselsatz »Tach, ich bin der Klempner« von der Ödnis der Rahmenhandlung erlöst, nimmt im klassischen Martial-Arts-Film der folgenschwere Satz »Dein Kung Fu ist schlecht!« diese Rolle ein. Ein junger Schüler stellt den Stil einer anderen Kung-Fu-Schule in Frage, und der erleuchtete Meister vom Lang-Lo-Lotusblumen-Tempel auf dem heiligen Berg macht sich auf, um aus allen Zweiflern Kleinholz zu machen.

Was so skurril als Egoproblem in Szene gesetzt wird, ist erstaunlich nahe an der Realität. Mag sein, dass die Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist, aber in der Welt der Kampfkunst ist gekränkte Eitelkeit das treibende Prinzip.

Auch Bruce Lee prügelte sich schon auf dem Schulhof gerne mit den größeren Jungs. In seiner Jugend lernte er Kung Fu vom legendären Großmeister Yip Man und schlug sich voller Freude bei »sportliche fairen Kung-Fu-Vergleichskämpfen« auf Hongkongs Hinterhöfen. Im Alter von 18 Jahren hatte er schließlich eine zünftige Klopperei mit jemandem, dessen Papa ein angesehenes Mitglied in einer Verbrecher-Triade war. Naja, zumindest erzählte man sich das so.

Um weiteren Ärger zu vermeiden, ging Bruce Lee lieber schnell in die USA. Dort musste er bei der Begegnung mit Boxern, Ringern und Kickboxern schmerzhaft feststellen, dass sein Kung Fu erhebliche Mängel hatte. Er brach mit dem üblichen Kampfkunst-Dogmatismus und puzzelte seinen eigenen Kampfstil aus 27 anderen Stilen und Systemen zusammen. Auf verschnörkelte, realitätsferne und ineffektive Techniken verzichtete er und arbeitete stattdessen nach einem groben Konzept und mit einer Reihe von Basis- und Folgetechniken. Bruce Lees Patchwork-Stil Jeet Kune Do war ein Quantensprung für die damalige Kampfkunst-Welt.

Wäre er zu dieser Zeit nach Brasilien gekommen, anstatt die Welt mit so dussligen Streifen wie »Der Mann mit der Todeskralle« zu quälen und anschließend zu sterben, dann hätte er dort bestimmt viel Freude mit einer ganzen Dynastie von Kampf­sport-Freaks und ihren Rivalen gehabt.

Am Zuckerhut war Kung Fu damals zwar weniger gefragt, doch egomanische Kampfsportrivalitäten gab es auch. So verband die Luta Livre-Aufgabe-Ringer mit den Anhängern des Gracie Jiu-Jutsu eine generationsübergreifende Fehde. Die Familie Gracie stellt seit 1925 die Gralshüter des brasilianischen Jiu-Jutsu. Sie haben den aus Japan kommenden Sport in Brasilien maßgeblich geprägt und zu einer brasilianischen Variante weiterentwickelt; beim Jiu-Jutsu rollt man sich wie beim Luta Livre mit dem Gegner auf der Matte und nötigt ihn mit Würgegriffen, Hebel- oder kunstvollen Schmerztechniken zur Aufgabe.

Wie im trashigen Hongkong-Actionfilm gab es natürlich nur einen Weg, die Streitigkeiten zwischen Luta Livre und den Gracies beizulegen. Beide begegneten sich im Ring, und ein Veranstalter kassierte vom Publikum ordentlich Eintritt. Das Ganze lief unter dem Namen »Vale Tudo« (portugiesisch für: »Alles erlaubt«) und wurde zu einem Riesenerfolg.

Da es um die Frage ging, wer der beste Kämpfer und was der beste Kampfstil sei, luden sich auch Kampfkunstspezialisten anderer Stile ein, und in der Folge traten Ringer, Jiu-Jutsu-Kämpfer, Boxer, Karatekas und Thai-Boxer gegeneinander an.

Die Regeln beim regellosen Kampf waren recht simpel: Es war verboten, den Gegner zu töten, ihn zu beißen, in Augen oder Kehle zu stechen, ihn aus dem Ring zu werfen oder selber aus dem Ring zu flüchten – alles andere aber war erlaubt. Abgesehen von einem Zahn- und einem Unterleibsschutz wurde ohne Schutzbekleidung und ohne Handschuhe gekämpft. Die einzige Möglichkeit, im zuweilen sehr blutigen Vale Tudo zu gewinnen, war es, den Gegner durch Hebeltechniken zur Aufgabe zu zwingen, ihn per Würgegriff einschlafen zu lassen oder K.O. zu kloppen.

Nach brasilianischen Vorbild finden seit Anfang der neunziger Jahre auch in Japan, Russland und Nordamerika Vale-Tudo-Kämpfe unter der Bezeichnung Free Fight statt. Die »Ultimate Fighting Championship« (UFC) in den USA war lange Zeit die bedeutendste dieser Veranstaltungen. Charakteristisch für die UFC ist, dass nicht im Boxring, sondern im Oktogon gekämpft wird – auf einer mit Maschendraht umzäunten achteckigen Kampffläche. Die ersten Veranstaltungen wurden per Pay-TV übertragen und erzielten enorme Einschaltquoten. Die öffentlichen Reaktionen waren jedoch sehr negativ. Man kritisierte die Kämpfe als ekelerregend brutal und offen menschenverachtend. Jugendschützer und Politiker aller Parteien forderten ein schnelles Verbot.

In der Kampfsportszene entfachten die UFC hingegen eine wahre Revolution. Nachdem hunderte von Weltklasse-Kick- und Thai-Boxern in den Armhebeln und Würgegriffen der brasilianischen Jiu-Jutsu-Kämpfer zur Aufgabe gezwungen worden waren, folgte die Neuorientierung. Es entwickelten sich die Mixed Martial Arts (MMA). Hybrid, schnörkellos, auf das Wesentliche konzentriert und den jeweiligen Stärken und Schwächen des Einzelnen angepasst, wird gleichermaßen der Kampf im Stehen und am Boden trainiert. Das Brauchbarste aus allen Kampf­künsten wird ohne Respekt vor irgendeiner Traditions- oder Verbandslinie adaptiert.

Im Free Fight sind die körperlichen, tech­nischen und mentalen Anforderungen an die Sportler größer als in irgendeinem anderen Kampfsport. Gute Kämpfer müssen hoch flexibel und vielseitig sein, sie versuchen, ihren Gegnern jeweils die Kampfdistanz aufzuzwingen, in der sie überlegen sind.

Das Aufkommen dieser Allround-Spezialisten läutete das Ende der Vertreter der reinen Lehre ein. Eine kleine Schicht von Profi-Free-Fightern bildete sich heraus, die mit den Kämpfen ihren Lebensunterhalt verdienen. Auf Druck einiger dieser Profis sind seit Mitte der neunziger Jahre bei den meisten Vale-Tudo-Veranstaltungen Faustschützer und das Verbot von bestimmten Angriffen, die starke Verletzungen nach sich ziehen, zum Standard geworden.

In Japan entstand 1997 die sehr finanzkräftige »Pride Fighting Championship«. Dort verzichtete man auf einen Käfig und ein allzu blutiges Image. Die Serie zog ein großes Publikum an und wurde zum Tummelplatz der jeweils weltbesten Free Fighters. Heutzutage kommen in Japan bis zu 60 000 Zuschauer zu den Kämpfen, während Millionen im Fernsehen und im Internet live das Geschehen verfolgen. Die Sportler werden dort wie Popstars gefeiert und bezahlt. Die gegenwärtig am amüsantesten zu beobachtende Rivalität besteht dort zwischen zwei brasilianischen MMA-Profis. Der Jiu-Jutsu-Experte Ricardo Arona bezweifelte die Echtheit des schwarzen Gürtels im Jiu-Jutsu von Wanderlei Silva, dem amtierenden Mittelgewichts-Champion. Der versprach ihm dafür einen K.O.