Über Mozart

Das Subjekt Mozarts

Warum wir Mozart hören, aber ihn nicht hören können.

Ein Jubeljahr ist natürlich von allen Anlässen der elendste, über Mozart zu schreiben. Geburtstagsfeiern sind schließlich selten der Ort kritischer Besinnung, und gerade, wo der Jubilar im Mittelpunkt steht, ist das, worauf die Gratulanten angeblich aus sind, an den Rand verwiesen. Die Musik, die bewirken soll, dass Kühe mehr Milch geben und Menschen nach hartem Tageswerk nach Höherem streben, erstrahlt vor allem in dem Licht, in das man ihren Schöpfer gestellt hat. Man mache die Probe aufs Exempel: Zum runden Geburtstag eines Haydn, dessen Werk dem Mozartschen, zumal in dessen gefeiertesten Eigenschaften, Esprit und Humor, kaum nachstehen dürfte, wäre ein ähnlicher Aufwand schwer vorstellbar.

Zu den hartnäckigsten Klischees, mit denen Mozarts Musik umstellt ist, gehört eben die fixe Idee, in ihr hörten wir Mozart höchstpersönlich – spräche das Wunderkind, mit seinem sprichwörtlich »göttlichen Leichtsinn«, sich aus, und das zu uns. Wolfgang Hildesheimers große Biografie diente kaum einem anderen Zweck, als diese spektakuläre Intimität zu beseitigen; natürlich vergeblich. Aber seither ist es wenigstens nachlesbar: Aus seiner Musik spricht am allerwenigsten der Mensch Mozart. Fraglich ist, ob er in seiner Musik überhaupt gesprochen hat. Stefan Ripplinger hat diese Frage in der Zeitschrift konkret vehement und überzeugend mit Nein beantwortet.

Fraglich ist auch, ob überhaupt ein Ich, das sich hätte aussprechen können, existent war. Einer, der schon im Kindesalter als perfekt funk­tionierende Pianistenmaschine von Fürstenhof zu Fürstenhof reiste; der auch später viel zu sehr damit beschäftigt war, das, was ihm durch den Kopf ging, aufs Papier zu bringen, vorzugs­weise in der Nacht vor der Uraufführung – wie sollte der dazu noch die Zeit finden, ein Ich auszubilden? Selbst von einem Genie ist das reichlich viel verlangt. Nicht, dass Mozart – höflicher Mensch, der er war – nicht durchaus einen unverwechselbaren Charakter zur Hand hatte, wie es die Konventionen der Zeit verlangten. So etwas hatte er schon zu Wunderkindzeiten gelernt, und davon zehrt der Mozart-Kult bis heute. Er darf sich freilich keine Rechenschaft darüber ablegen, dass die Unterscheidung von bloß konventionellen und wahr­haft individuellen Zügen im Falle ­ihres Lieb­lings allemal leer läuft. Was natürlich umso schmerzhafter ist, wenn es um dessen peinliche Züge geht, die hässlichen Ausfälle gegen den »wie ein Hund krepierten« Voltaire etwa.

Gegen die Konventionen hat Mozart nie rebelliert; an ihnen entzündete sich vielmehr, wie Hildesheimer schreibt, seine Phantasie. Seine große und unumkehrbare musikgeschichtliche Leistung vollbrachte Mozart gerade nicht als Abziehbild des Künstlersubjekts, das, nur dem Zwang der eigenen Autonomie gehorchend, die Normen seiner Zeit herausfordert – sondern einzig und allein dadurch, dass er sie, wohl als erster, spielend erfüllte. Die Voraussetzung hierfür war allerdings, dass die Normen bereits angegriffen waren.

Geschichtsphilosophisch wird Mozart daher auf der Grenze zwischen der ausgehenden feudalabsolutistischen und der anhebenden bürgerlichen Ordnung situiert; mit anderen Worten: zwischen Bach und Beethoven. Hörbar ist das schon an der Weise, mit der die Musik einsetzt. Generationen von Pianisten stehen stets neu vor der Herausforderung, die Präludien aus Bachs Wohltemperiertem Klavier als Vorspiele der ihnen zugehörigen Fugen, zu denen sie in keinem zwingenden Zusammenhang stehen, sinnfällig zu machen. Wo Musik, wie in der Tradition, die Bach vollendete, aufs Unendliche, auf die göttliche ordo geht, kann es streng genommen gar keine in sich geschlossenen Stücke geben. In »Dirk Gently’s Holistischer Detektei« von Douglas Adams wird Bach als Kunstfigur erfunden, um wenigstens einen winzigen Aus­schnitt der Aufzeichungen eines Computers veröffentlichen zu können, der vier Milliarden Jahre lang jedes Element der Welt in Töne umrechnete. Einleuchtend ist, dass solcherart Musik jeder Anfang und jeder Abschluss zur Verlegenheitslösung gerät, zum Will­kür­akt. – Beet­hoven hingegen setzt gerade, da-da-da-daaa, den Willkür­akt als selbstbewussten Ausgangspunkt. Mit einem Schlag zitiert das Subjekt die Musik herbei.

Mozarts Musik aber eignet, bei aller Gewalt, allem in den Bann schlagenden Zauber des Anfangs, doch stets noch eine eigen­tüm­liche Scheu vor der Willkür des Beginnens. Kein Vorhang geht auf, der den Blick sei’s aufs große Ganze, sei’s aufs große Einzelne freigibt. Stattdessen müssen sich die Töne immer erst noch von irgendwo sammeln, bevor sie hier und jetzt ihr Stelldichein geben. Das Eingangsthema der großen g-moll-Symphonie (KV 550), die zyklisch auf- und absteigenden Sekunden heben leise, wie aus fernster Ferne an, als Beginn vor dem eigent­lichen, dynamisch klar artikulierten Beginn; als wäre der Zuhörer gerade eben zu spät gekommen und höre die ersten Takte noch im Foyer. Während sie doch längst für keinen anderen mehr da ist, demonstriert die Musik dem Subjekt, dass sie auch ohne es könnte.

Derart siedelt das Werk im Niemandsland, jenseits der Grenzen, welche durch die festgefügte ständische Ordnung einer-, das fest­gefügte bürgerliche Ich andererseits gesetzt sind. Wenn Mozart auch diente, so nicht mehr als Knecht der göttlichen Schöp­fung, sondern als Freischaffender der zahlungskräftigen Kundschaft; und wenn er auch auf dem Markt seine Erfolge suchte, so doch nicht als Schöpfersubjekt, als exzentrisches Urbild des bürgerlichen Tatmenschen. Wo Bach, demütig, noch und Wagner, stolz, schon wieder für die Ewigkeit schrieben, blieb Mozart wahrhaft auf den unwiederbringlichen geschichtlichen Moment verwiesen, auf die flüchtige Gegenwart. (Darin übrigens eins mit Beet­hoven, der kühn davon träumte, seine Appassionata möge man noch in zehn Jahren spielen.) Die, von denen er zu leben hatte, hätten mit Stücken, in denen einer sich für die Nachwelt er­klärt, kaum etwas anfangen können. Ih­re Vorstellungen von dem, was sich schickt, waren noch zu intakt, als dass sie Nachhilfe, wie zu leben sei, gebraucht hätten.

Die Form, die auf dem einsetzenden bürgerlichen Kulturmarkt zu wahren war, war eben noch die alte aristokratische: der Zeitvertreib. Musik hatte die Lebensnot, zumal die eines prekären Subjekts, nicht auszudrücken, sondern von ihr abzulenken. Alles, was das tu­gend­hafte 19. Jahrhundert an der Mo­zart’schen verachtete: die Frivolität, das Kulinarische, das Tellergeklapper, das Wagner in den Symphonien vernahm, verwies auf ihren allzu irdischen Ursprung im Divertissement. Weil sie ihre Zuhörer – ihre Kundschaft – bei Laune halten will, duldet sie nichts Sperriges, Hervorstechendes. Das Werk, das Mozart für sein gelungenstes hielt, das Es-Dur-Quintett für Klavier und Bläser (KV 452), ist darin ein Musterfall, gerade an Unaufdringlichkeit: an Vollkommenheit, die sich nicht herausschreit. Die Musik bewegt sich gleichsam wie auf Zehenspitzen, mit hörbar angehaltenem Atem fort. Nur dass das, was sie nicht stören, nicht aus dem Gleichgewicht bringen will, sie selber ist – und nicht etwa der Zuhörer.

Im Quintett, ganz ähnlich wie in seinen besten Serenaden, hat Mozart das Telos der Unterhaltung, den erfüllten Augenblick, beim Wort genommen. Im Moment ihres Erklingens ist die Musik so wenig dunkel, so rein bei sich, dass schwer zu entscheiden ist, welche Stim­mung von ihr ausgeht. Fröhlich ist sie kaum zu nennen und traurig auch nicht; und doch am allerwenigsten unbeseelt. Ernst macht sie damit, den Ernst des Lebens außen vor zu lassen, jenseits dessen erst das Glück beginnt. Und doch kann die Musik dabei nicht stehen bleiben. Ganz reine Musik bleibt zugleich ganz fremd: Was sich selber genügt, lässt die anderen, die Zuhörer, außen vor. Um den erfüllten Augenblick nicht zur unendlichen Langeweile erstarren zu lassen, muss die Musik immer auch über ihn hinaus.

Vor allem bei der Gestaltung des Schlusses lässt der unübertroffene Opernkomponist der Phantasie freien Lauf. In der Coda, die etwa das formvollendet durchkonstruierte a-moll-Rondo (KV 511) in kaum erahnte Tiefen führt, konzen­triert sich regelmäßig die Mozartsche Meisterschaft. Es ist, als könnte das Subjekt nur, indem es sich aus dem Werk zurücknimmt, die Kraft sammeln, es schließlich zu besiegeln; als könnte Mozart die Tatsache, dass alles, auch die Musik, nun einmal enden muss, nur ertragen, wenn diesem Ende die Kraft des Neuanfangs innewohnt. Dem Beginnen vor dem Beginn korrespondieren die von Georg Knepler analysierten Schlüsse nach den Schlüssen, das Aufwerfen neuer Verwicklungen nicht vor, sondern nach deren reprisengemäßer Auflösung. Sie zer­stören den falschen Schein von Harmonie und trösten doch auf untergründige Art, ganz so wie die beliebte Übung in Fernsehserien, nach dem Ende einer Folge den Ausblick auf die nächste zu geben: Heute ist nicht alle Tage.

Gerade ein dramatisches Stück wie das Klavierkonzert in d-moll (KV 466) führt den Kon­flikt, in den Mozart, dem Geist der Zeit zuliebe, gerät, sinnlich vor. Zu Beginn der Durchführung wird dem leidenschaftlichsten, auffahrends­ten Motiv der Exposition hörbar der Mund ver­boten; wodurch freilich dessen durchschlagende Wirkung im weiteren Verlauf sich nur noch steigert. Zu wissen, dass einer nicht schon deshalb Kunst schaffe, weil er sich auf den Boden wirft und die Haare rauft, ist, so zeigt sich, eine Sache; eine andere Sache aber, auch Unerhörtes zu gewähren, um damit das Publikum bei der Stange zu halten.

Wie die reine, für sich existierende Musik ist auch, und deutlicher noch, das unablässig Neue eine Kategorie der Kunst als Ware. Indem aber Mozart ihr Folge leistet, überlastet er die Form, auf deren Tragfähigkeit für seine Zwecke er alles Vertrauen setzt. Die thematischen Kontraste, von denen die Sonate lebt, werden so zahlreich und überdeutlich in Szene gesetzt, dass sie drohen, die Organizität des Ganzen zu unterminieren. Ähnlich im Falle des Reichtums an harmonischen Ideen. Im Finale des »Don Giovanni«, in jener Szene, an deren Ende sich die Erde auftut und Don Juan in die Hölle hinabzieht, zieht die begleitende Musik auch den Hörern den Boden unter den Füßen weg: fast unmöglich auszumachen, in welcher Tonart sie sich befindet. Was die Dur-Moll-Tonalität gewährt, die beständige Neuinterpretation einer Tonart als eine andere, stellt sie, ganz ausgereizt, zugleich als Ordnungsschema in Frage; bei Mozart blitzt bereits auf, was über ein Jahrhundert später zur Revolution der Neuen Musik führen sollte.

Sein Publikum hat das verspürt. Eine zeitgenössische Kritik diagnostiziert, dass der Komponist durch »Suchen nach bizarren, frappanten und paradoxen sowohl melodischen als auch harmonischen Sätzen (…) den natürlichen Fluss vermeidet, um nicht allgemein zu werden.« Hätte Mozart, wie Ripplinger unterstellt, ein bloß pragmatisches Verhältnis zu seiner Musik gehabt, sie in erster Linie verkaufen wollen – er hätte wohl besser daran getan, ein Erfolgsmodell beständig zu wiederholen, statt rückhaltlos jener Dynamik des Marktes in seiner Musik zu folgen, welche ihn schließlich ins Armengrab brachte.

Dass Mozart die Konventionen, die er wahren wollte, durch Konsequenz über sich hinaustrieb, war alles andere als ein Triumph des Subjekts. Gerade das Großartige seiner Musik hätte unter Bedingungen eines fest umgrenzten, mit sich identischen Ichs kaum derart sich entfalten können. Es bedurfte einer unbehinderten Durchlässigkeit zur Welt (oder, neoliberal gesprochen: schrankenlosen Flexibilität), um noch die abseitigsten Aufgaben annehmen und überzeugend lösen zu können, noch jedem Instrument ein Meisterwerk zu schreiben, noch jeder Stimme und jedem Charakter gerecht zu werden und das ihre zu geben. Die Affekte, die Mozart in der Oper entfesselte wie keiner vor ihm und kaum einer nach ihm, durften, um dem Komponisten zur Hand zu gehen, mit dem empirischen Charakter nicht verlötet sein. (Tatsächlich sind Mozarts unmotivier­te Stimmungsumschwünge ebenso zahl­reich überliefert wie merkwürdig deplatzierte emotionale Reaktionen. Den zitierten Satz vom »wie einem Hund krepierten« Voltaire schrieb er am Todestag der Mutter.)

Solcher Mangel an Subjekt ist kaum an sich ein Vorzug, weder moralisch noch musikalisch. Im Gegenteil: Nach allen vorhandenen Maßstäben war Beet­hoven, vermöge seiner Kraft zur subjektiven Durchbildung, allemal der bessere Komponist. Kaum eine Musik, die sich buchstäblich zu Tode spie­len lässt, und daran ist nicht ganz unschuldig, dass ihre Elemente eben noch nicht zur Gänze wissen, wohin sie wollen. Aber sie eröffnet zugleich die Potenziale, die jener Einheitlichkeit, wie Subjektivität sie stiftet, abgehen. Beet­hoven sprach viel zu sehr mit einer Stim­me, um eine wirkliche Oper, kein Lehrstück, schreiben zu können; und zumal eine Oper wie den Don Giovan­ni, dessen Titelheld uns nichts zu sagen hat.

Von allen Charakteren ist ausgerechnet der große Verführer der ausdrucksloseste. Musikalisch lebt er beinahe ausschließlich von den Motiven der anderen, die er ihnen bloß zurückspiegelt. Er verkörpert – wie Gerhard Scheit herausgearbeitet hat – nichts als Vermittlung; die freilich ins Bodenlose gesteigert. Und doch erschöpft sich seine Rolle nicht allein darin, die Subjektivität der Gegenspielerinnen, die keine Nummern in seinem Buch der Eroberungen werden wollen, zu stimulieren. Seine Un­menschlichkeit, die sich jeder Einfüh­lung entzieht, überschlägt sich im Finale selber: Würde er, menschlich-allzumenschlich, das Böse nur zum eigenen Vorteil begehen, dürfte er die letzte Aufforderung, seine Sünden zu bereuen, nicht zurückweisen. Indem Don Juan das Gnadenangebot ausschlägt und die Höllenfahrt besie­gelt, verwandelt er seine Charakterlosigkeit ins Rätselbild menschlicher Freiheit; und das zu einer Musik, deren Einstand von Schauder und Schönheit einem buchstäblich den Atem verschlägt.

Nur durch die Entsubjektivierung hindurch, indem das Subjekt seine Menschlichkeit an sie abtritt, gelingt das, was gemeinhin als Mozarts größte Leistung gilt: die Humanisierung der Musik.