Die Maskottchen-Formel

Die Werbefiguren der Fußballweltmeisterschaften im Vergleich. von christian helms

Selten sind sie mittlerweile geworden, die wirk­lich lichten Momente des Thomas Gottschalk. Als sich jedoch »Goleo VI«, das offizielle Mas­kottchen der Fußballweltmeisterschaft, im November 2004 als feierlicher Höhepunkt einer »Wetten, dass …?«-Aufzeichnung erstmals unter die Augen der Weltöffentlichkeit wagte, reagierte der in die Jahre gekommene Showmaster bemerkenswert geis­tesgegenwärtig. »Jetzt mal ehrlich, einer deiner Vor­fahren hatte mal was mit einem Lama«, befreite Gott­schalk das irritierte Saalpublikum in Leipzig aus seiner Beklemmung und gab damit gleichzeitig das Startsignal für einen neuen deutschen Breitensport – das »Goleo-Bashing«.

Und so wurde in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten auf die missratene Großkatze einge­prügelt. Was denn ein Löwe mit Deutschland zu tun habe, lautete die berechtigte Frage der meisten Kommentatoren; auch die Tatsache, dass Goleo es nun einmal vorzieht, ohne Hose zur Arbeit zu gehen, griff die gelangweilte Journaille gern auf. Kein gutes Haar ließ man am zotteligen Ungetüm, dessen Job es ist, dümmlich daherzureden, um sich dann von seinem kleinen Begleiter »Pil­le« korrigieren zu lassen.

Auch ein gutes Jahr danach, vier Monate vor dem ersten Ballkontakt des Turniers, sind wir mit Goleo noch nicht warm geworden. Inzwischen blickt er uns zwar angenehm sprachlos aus unzähligen Kaufhausregalen entgegen, wohl wissend, dass seine große Zeit noch kommen wird. In mehreren Fernsehspots soll das Maskottchen für das anstehende Großereignis werben und wird im Sommer mit Sicherheit in sämtlichen Stadien der Republik präsent sein.

Dennoch trauen ihm nur noch wenige zu, die hohen Vorgaben des Weltverbands zu erfüllen. »In der heutigen Mediengesellschaft misst die Fifa dem Maskottchen als Identifikationsfigur und Brücke zum Fan eine große Bedeutung bei«, hatte es noch bei Goleos Vorstellung geheißen. Da­bei hätte ein andächtiger Gang durch die mittlerweile zehn Generationen umfassen­de Ahnengalerie eventuell geholfen, die Erfolgsformel für liebenswerte WM-Maskottchen zu finden.

Ein Artgenosse Goleos machte den Anfang, wenngleich es in England natürlich ungleich logischer war, sich für einen Löwen zu entscheiden. Schließlich zieren gleich drei dieser Raubtiere das englische Wappen. Seit »World Cup Willie« sich vor der Endrunde 1966 auf das offizielle Turnierplakat gemogelt hatte – das sollte übrigens keinem seiner Nachfahren mehr ge­lingen –, wurde das WM-Maskottchen zum beliebten Marketinginstrument. Bereits vor 40 Jahren druckte man den kleinen Löwen fleißig auf die Kartons von Frühstücksflocken oder auf Bieretiketten. In seinem Auftreten unterschied sich Willie jedoch entscheidend vom weinerlichen Goleo.

Kantig, breitschultrig, voller Stolz in ­einen Union Jack gehüllt – der kleine Kerl schien den Engländern entschlossen zuzurufen: »Wir holen uns jetzt diesen verdammten Titel! Und wenn ich dafür einem sowjetischen Linienrichter Prügel androhen muss!« Durch den gedrungenen Körperbau vermochte er es sogar, knuddelig zu wir­ken – auf die gleiche bizarre Weise schlossen die Briten Jahrzehnte später auch ihren Nationalspieler Paul Gascoigne ins Herz.

Auf »Willie« folgte »Juanito«, der kleine, ebenfalls leicht untersetzte Charrito in den mexikanischen Nationalfarben. Die »Charrería« ist wohl am ehesten als lan­des­ty­pi­sche Variante des nordamerikanischen Rodeos zu erklären, typisch ist bei dieser traditionellen Veranstaltung unter anderem das Tragen überdimensionaler Hüte. Unter dem Schatten spendenden Sombrero lachte ein pausbäckiges Kind der Welt entgegen. Ja, das funktioniert immer.

Vier Jahre später grinsten mit »Tip und Tap« erstmals gleich zwei Glücksbringer um die Wette, wie »Juanito« steckten auch die beiden deutschen Knaben in Sportschuhen mit den drei Streifen und trugen zu kurze Shirts. Nationaltypische Merkmale waren ihnen nicht gegeben, gemeinhin interpretierte man das Erscheinen des Duos jedoch als Anspielung auf das geteilte Deutschland. Natürlich ein weiterer Anlass, auf die Wiedervereinigung anzustoßen; wäre die Mauer nicht gefallen, hätten wir heute vermutlich zwei (!) Goleos!

Die argentinische Militärdiktatur präsentierte 1978 mit »Gauchito« einen Hirtenjungen im Gewand der »Albiceleste«, der in vielerlei Hinsicht an seinen mexikanischen Vorgänger »Juanito« erinner­te. Neben dem Element der Viehzucht griff man in dieser Figur die alte Legende des Gauchito Gil auf, der süd­amerikanischen Entsprechung Robin Hoods, die auch heute noch als Schutzpatron der Armen fungiert.

Die Maskottchen blieben niedlich, 1982 begleitete eine kleine Orange (»Naranjito«) das Turnier. Die Spanier nutzten die Gelegenheit, die Welt noch einmal auf ihren Exportschlager aufmerksam zu machen. In einer Cartoon­serie durfte die vergnügte Südfrucht mit ihrer kleinen Freundin »Clementina« damals manch buntes Abenteuer erleben. Vier Jahre später erschufen die Mexikaner dann »Pique«, im lateinamerikanischen Spanisch ein »Heber«. Treffend, denn in der Tat übertrumpfte das Maskottchen alle bisherigen Kreaturen. Eine schnurrbärtige Chilischote mit Sombrero – mehr Klischeehaftigkeit war kaum möglich.

Es sei denn, Italien hätte 1990 »Giancarlo, den lustigen Pizzabäcker«, vorgestellt. Man hätte sich auch der reichhaltigen römischen Geschichte bedienen können, doch man hatte stattdessen den Willen zum Design. In einer Zeit, in der es durchaus als schick galt, mit Applikationen in Türkis oder Violett Trainings­anzüge aufzuwerten, wurde die Skulptur »Ciao« erdacht. In damals hochmodernen Computer­animationen begrüßte und verabschiedete sich das elegante Balkenwesen vom Publikum und überspielte damit gekonnt das Fehlen von Gesichtszügen und Kuschelelementen.

Die Rückkehr ins Tierreich: Warum die Vereinigten Staaten 1994 mit »Striker« einen Hund ins Rennen schickten, ist ähnlich rätselhaft wie der deutsche Bezug zum Löwen Goleo. Auch deshalb geriet der Kläffer schnell in Vergessenheit. Ihm folgte »Footix«, der gallische Hahn, ein unaufdringlicher Zeitgenosse, der zu zwei Dritteln aus einem Schnabel zu bestehen schien und auch ohne Baguette, Rotwein und Baskenmütze die Verknüpfung mit Frankreich herstellte.

Den größten Flop landeten vor vier Jahren Japan und Südkorea. Man hätte konservativ einen Samurai mit Gameboy oder einen Daewoo voller Plastikspielzeug präsentieren können. Klar, nach dem Vorbild von 1974 gerne auch zwei Daewoos, um auf die Teilung Koreas zu verweisen. Stattdessen wurde eine derart hanebüchene Story um drei bunte Wesen aus der »Atmozone« konstruiert, dass niemand mehr folgen konnte und wollte. An die Namen »Kaz«, »Ato« und »Nik« erinnert sich schon heute kein Mensch mehr.

Was also lehrt uns dieser Streifzug durch die Geschichte der WM-Maskottchen? Wenn schon ein Tier, dann zumindest das Wappentier. Niedlich muss es sein. Überdies gilt: Je mehr landestypische Klischees verwendet werden, desto besser. Optimalerweise sollte der Glücksbringer dann auch noch eine kurze Botschaft haben.

Der exakte Gegenentwurf wäre ein 2,30 Meter großer deutscher Löwe in einem weißen Trikot. Ohne Hose. »Er kann sprechen, tanzen, interaktiv werden«, sagt Franz Becken­bauer und hofft derweil darauf, dass Goleo trotz seiner Defizite noch die Herzen der Fuß­ballinteressierten erwärmen wird. Bislang ge­reichten ihm seine Begabungen aber eher zum Nachteil.