Mit Koran, ohne Kapital

Nach dem Wahlsieg sucht die Hamas Koalitionspartner, um eine Streichung der westlichen Finanzhilfen zu vermeiden. Die Islamisten bemühen sich jedoch auch um neue Geldgeber. von andré anchuelo

Auf den ersten Blick scheint die Lage in den palästinensischen Autonomiegebieten nach dem überwältigenden Sieg der islamistischen Hamas-Organisation bei den Parlamentswahlen immer unübersichtlicher zu werden. Hochrangige Vertreter der Hamas trafen sich vergangene Woche mehrfach in Gaza und Kairo mit dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmoud Abbas von der Fatah-Bewegung, um über die Bildung einer neuen Regierung zu verhandeln. Die Berichte über diese Treffen sind allerdings widersprüchlich.

Einigen Meldungen zufolge versucht die Hamas weiterhin, unabhängige Politiker für ihre Regierung zu gewinnen, um ihr einen moderaten und technokratischen Anstrich zu geben. Damit, so die Hoffnung, könnte sie die Streichung der Finanzhilfen aus Europa und den USA abwenden, ohne Israel formell anzuerkennen und dem Terrorismus abzuschwören. Als Kandidat für den Posten des Premierministers wurde dabei der frühere PA-Minister Ziad Abu Ziad genannt, der über gute Kontakte nach Israel und in westliche Länder verfügt. Immer wieder fällt auch der Name Salam Fayad. Der ehemalige PA-Finanzminister trat im Dezember frustriert von seinem Posten zurück, um sich auf die Wahlkampagne seiner unabhängigen Liste »Dritter Weg« zu konzentrieren, die zwei Sitze im PA-Parlament erringen konnte. Doch der im Westen hoch respektierte Fayad machte zur Bedingung, dass die Hamas zunächst Israel anerkennen müsse.

Allerdings scheinen auch andere Varianten in der Diskussion zu sein. So wurde auch gemeldet, die Hamas habe ihren als Hardliner geltenden Topfunktionär Mahmoud Zahar als Premierminister nominiert. Andere Beobachter gehen weiter davon aus, dass Ismali Haniya, der Spitzenkandidat der Hamas-Liste »Reform und Wandel«, Regierungschef werden soll.

Doch auch eine Beteiligung des Wahlverlierers Fatah wird nicht mehr ausgeschlossen. Eine Fraktion innerhalb der Fatah, der wohl am Erhalt der Machtpositionen in Bürokratie und Militärapparat gelegen ist, scheint diese Option zu befürworten. Doch vor allem die jüngere und mittlere Fatah-Generation ist weiterhin strikt gegen diese Variante. So vermuten Beobachter, dass ihr Anführer, der ehemalige PA-Sicherheitschef im Gaza-Streifen, Mohammed Dahlan, hinter den gewalttätigen Demonstrationen steckt, die seit den Wahlen vor allem den Gaza-Streifen erschüttern.

Dahlan war einer der wenigen Fatah-Kandidaten, die bei den Wahlen ein Direktmandat erringen konnten. Offenbar will er einerseits die Gunst der Stunde nutzen, um die alte Fatah-Garde endlich in Rente zu schicken, und andererseits der Hamas das Leben an der Regierung so schwer wie möglich machen. Und das heißt auch: neue Anschläge gegen Israel. So haben die mit der Fatah verbundenen Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden bereits unmittelbar nach den Wahlen verkündet, sie fühlten sich nicht mehr an eine Waffenruhe gebunden. In der vergangenen Woche kam es dann zu mehreren antiisraelischen Anschlägen, die zumindest zum Teil auch auf das Konto der Al-Aqsa-Brigaden gingen.

Klar scheint jedenfalls, dass die Regierungsbildung noch eine Weile dauern wird. Von zwei bis drei Monaten ist die Rede. Damit dürfte auch die Schonfrist benannt sein, die die europäischen und US-amerikanischen Geldgeber der PA zunächst einräumen wollen. Unterdessen scheint es selbst in der israelischen Regierung Konflikte um die Fortführung der Überweisung von Zoll- und Steuereinnahmen zu geben. Die israelische Regierung hat in der vergangenen Woche beschlossen, die Auszahlung dieser Gelder, die sie gemäß den von der Hamas nicht anerkannten Osloer Abkommen auf Wareneinfuhren in die Autonomiegebiete erhebt und an die PA weiterleitet, sofort einzustellen. Doch am Sonntag entschied das Kabinett, die Zahlungen vorerst fortzusetzen und das einbehaltene Geld umgehend zu überweisen. Damit soll zum einen der sofortige Zusammenbruch der faktisch zahlungsunfähigen PA verhindert und zum anderen einer vielleicht erst in drei Monaten zustande kommenden Regierungsbeteiligung der Hamas nicht vorgegriffen werden.

Die Hamas bemüht sich derweil um neue Finanzhilfen aus verschiedenen arabischen Staaten sowie von den befreundeten Jihadisten in Teheran. Auch eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland und südamerikanischen Staaten wie etwa Venezuela steht auf der Agenda. Doch vor allem betont die Hamas-Führung immer wieder, dass sie bereit sei, die im vergangenen Jahr verkündete »Abkühlungsphase« fortzusetzen und sich sogar auf einen zehn Jahre andauernden »Waffenstillstand« einzulassen. Selbst zu Verhandlungen mit Israel sei man bereit. Dies ändere allerdings nichts an dem langfristigen Ziel eines Palästina »vom Jordan bis zum Mittelmeer«, verkündete der Hamas-Chef Khaled Meshaal vergangene Woche in Damaskus.

Vorübergehender Gewaltverzicht, langfristiger Waffenstillstand, Verhandlungen mit Israel, ein palästinensischer Staat im Gaza-Streifen, in der Westbank und Ostjerusalem als Übergangslösung – die »Angebote« der Hamas muten seltsam vertraut an. Tatsächlich ähneln sie in mancherlei Hinsicht der Strategie von PLO und Fatah in den achtziger und neunziger Jahren. Ohne intern das Ziel einer »Befreiung« ganz Palästinas und damit der Zerstörung des Staates Israel jemals aufzugeben, erkannte die PLO 1993 unter ihrem inzwischen verstorbenen Vorsitzenden Yassir Arafat Israel formell an. Im Gegenzug erkannte Israel Arafats PLO als Verhandlungspartnerin an. Mit der Einrichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde wurde Arafat Regierungschef eines Quasistaats mit legalen bewaffneten Verbänden und errang eine vorher nie für möglich gehaltene internationale Akzeptanz als respektabler Staatsmann, die in der Verleihung des Friedensnobelpreises an einen Mann gipfelte, der früher nicht nur in Israel als Terrorist verschrien war.

Doch gegenüber der eigenen Anhängerschaft stellte auch die PLO-Führung immer wieder klar, dass die Friedensabkommen mit Israel rein taktisch motiviert und der momentanen Schwäche geschuldet seien; die PA solle als »Trojanisches Pferd« dienen, um die »befestigten Tore« Israels zu überwinden. Die im Herbst 2000 schließlich vor diesen »Toren« gestartete Al-Aqsa-Intifada gegen Israel konnte zwar dessen Existenz nicht gefährden, hatte für viele Israelis aber tödliche Folgen.

PLO und Fatah allerdings brauchten für diesen erfolgreichen Imagewechsel zwei Jahrzehnte. Die Hamas hat nicht so viel Zeit. Und die Mehrheit der Israelis teilt nach den Erfahrungen mit der PA die Einschätzung der von Ariel Sharon gegründeten Kadima-Partei, dass ein halbwegs verlässlicher Schutz gegen palästinensische Terroranschläge nicht in Friedensverhandlungen, sondern in einer Verstärkung der Grenzbefestigungen zu finden sei. Deshalb hat sich am Vorsprung der Kadima in Umfragen auch nach dem Ende der politischen Karriere Ariel Sharons und dem Wahlsieg der Hamas nicht viel geändert.