Weder sauber noch gefahrlos

Parlamentarier aus Französisch-Polynesien behaupten in einem Bericht über die Atomtests im Pazifik, Frankreich habe über die radioaktive Gefahr der Explosionen gelogen. Sie ­empfehlen den Pazifik-Inseln, eine Entschädigung zu fordern. von bernhard schmid

Wir haben nichts Böses angestellt, denn die anderen sind – oder waren – noch viel böser als wir.« Nach diesem altbekannten Motto verfuhr bislang die französische Staatsmacht, wenn es um den »menschlichen Preis« für die Atombombentests ging, die von 1960 bis 1996 von der Armee des Landes durch­geführt wurden. Unverfroren heißt es etwa in ­einem parlamentarischen Bericht, der vor vier Jahren publiziert wurde, zwar könnten solche nuklearen Waffentests »nicht durchgeführt werden, ohne die Umwelt der Testorte zu beeinträchtigen und ohne menschliche Risiken einzugehen« – aber »all diese Auswirkungen sind lächerlich im Vergleich zu jenen der Tests, die von den beiden Supermächten nach 1945 ausgeführt wurden«.

Auf diese Weise den Geschädigten die kalte Schulter zu zeigen, dürfte künftig um einiges schwerer fallen. Nunmehr hat sich erstmals das Parlament ­eines französischen Überseeterritoriums, Französisch-Polynesien im Pa­zifik, offiziell der Sache angenommen. Eine Untersuchungskommission, die von den Abgeordneten in Papeete eingesetzt wurde, wird im Laufe dieses Monats ihren Abschlussbericht veröffentlichen.

Aber bereits vorab sickerten seit Ende Januar Einzelheiten des Berichts durch. Die Pariser Behauptung, die zunächst – in den Jahren 1966 bis 1974 – überirdisch und erst später unter Wasser durchgeführten atomaren Testexplosionen seien »sauber und gefahrlos« gewesen, wird demnach als »glatte Unwahrheit« bezeichnet. Vielmehr habe die zu geringe Anzahl von Messstationen sowie der nachlässige Umgang mit den Risiken dafür gesorgt, dass die Gefahren, die von den radioak­tiven Wolken ausgingen, nicht wahrgenommen worden seien. Die Untersuchungskommission empfiehlt der Inselregion, von der französischen Regierung Entschädigungen für Umwelt- und Gesundheitsschäden zu fordern.

Seitdem Frankreich im Februar 1960 seine erste Atombombe explodieren ließ, hat die Regierung in Paris insgesamt 210 Atomwaffentests durchführen lassen. Zunächst fanden die Explosionen in Süd­algerien statt, zunächst in der Nähe der Sahara-Stadt Colomb-Béchar und später in Tunneln im Wüstengebirge Hoggar. Noch bis 1966, vier Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens von der ehemaligen Kolo­nialmacht, testete Frankreich nukleare Sprengköpfe in dem nordafrikanischen Land: Geheimklauseln im Abkommen von Evian, das im März 1962 zum Waffenstillstand im französischen Kolonialkrieg führte, machten es möglich. Vier überirdischen folgten insgesamt 13 unter der Erde verlaufende Testexplosionen.

Südlich von Colomb-Béchar wurde dabei ein 150 Kilometer breiter Streifen radioaktiv kontaminiert. Noch heute kommt es in der westlichen algerischen Sahara auf mehreren Dutzenden Kilometern zu Viehsterben, das auf radioaktive Verunreinigungen – die sich in der spärlichen Vegetation konzentrieren – zurückzuführen ist, wie die algerische Tageszeitungen Liberté im Juni 2001 berichtete. Noch schlimmer ist, dass die unmittelbar bei den Atombombentests eingesetzten Materialien wie etwa Lastwagen und Transportautos einfach in der Sahara dicht unter der Oberfläche verscharrt wurden. Die Wüste wurde als rie­siges Atommülllager betrachtet. Doch die Wüstenbewohner, die sich der unsichtbaren Gefahren wegen der hohen Radioaktivität nicht bewusst waren, gruben später die Geräte aus und verkauften sie.

Nachdem das unabhängige Algerien spä­ter die Nutzung seines Bodens für militärische Atomtests verweigerte, verlegte die französische Regierung das Atomwaffentestprogramm in den Südpazifik. Bis zum Jahr 1974 wurden die Tests dort ebenfalls oberirdisch durchgeführt – obwohl sich die drei führenden Atomwaffen­mächte USA, UdSSR und Großbritannien bereits in einem Vertrag aus dem Jahr 1963 darauf geeinigt hatten, Tests in solcher Form zu untersagen, da man befürch­tete, die gesamte Erdatmosphäre könnte verseucht werden. Bei insgesamt 46 ober­irdischen Atomexplosionen wurde im Südpazifik das 675fache Potenzial der Hiroshima-Bombe gezündet, mit entsprechend starker Freisetzung radioak­tiver Spaltprodukte bei den Kettenreaktionen. Ab Mitte der siebziger Jahre wurden die Explosionen dann unter die Meeres­ober­flä­che verlagert, wo nochmals 146 Atom- und Wasserstoffbomben gezündet wurden.

Die letzte Kernexplosion auf dem Muroroa-Atoll fand im Februar 1996 statt, nachdem der frisch gewählte Präsident Jacques Chirac im Sommer des Vorjahres – allen internationalen Protesten zum Trotz – eine letzte Serie von acht Atomwaffentests im Südpazifik angeordnet hatte. Seitdem wurde die Erprobung der Funktionstauglichkeit und der präzisen Effekte atomarer Sprengköpfe jedoch – ähnlich wie in den USA – ins Laboratorium verlagert. Dort wird eine kleine Menge von Teststoffen unter extrem intensiver Laserbestrahlung ähnlichen Druck- und Temperaturbedingungen wie bei einer Kernexplosion ausgesetzt. Die Tests durch tatsächliche Zündung nuklearer Waffen haben sich deswegen inzwischen technisch »erledigt«, die Forschung wurde ins französische Kernland zurückgeholt. Dass Chirac überhaupt im Juli 1995 noch eine letzte Testserie anordnete, lag daran, dass für die Labor- und Computersimulation genügend erprobte Daten unter Verwendung neuster Materialien zugrunde gelegt werden sollten.

Mindestens 76 000 Personen – größtenteils französische Wehrpflichtige, die in Unkenntnis ihres Bestimmungsorts und ihrer Mission in den Südpazifik verschickt worden waren – wurden an den Atomwaffentests beteiligt. Vielen von ihnen hatte man lediglich dazu geraten, im Moment des Lichtblitzes der Explosion den Rücken zuzuwenden, die Augen zu verdecken und die Hände in den Hosentaschen zu verbergen. Nur die wenigsten hatten eine spezielle Schutzbrille für die Augen erhalten. Aus einer Testgruppe von über 700 Beteiligten, die von der »Vereinigung der Veteranen von Atomwaffentests« (AVEN) untersucht wur­de, ist fast ein Drittel an mindestens einer Krebsart erkrankt – doppelt so viele wie in der gleichen Altersgruppe der »Normalbevölkerung«. Manche klagen auch über Haut- und Skeletterkrankungen oder berichten von Missbildungen ihrer Kinder. Genau erforscht sind die medizinischen Auswirkungen bis heute nicht.

Die Vereinigung AVEN und ein Verband ehe­maliger polynesischer Mitarbeiter auf dem nuklearen Versuchsgelände, »Mururoa e Ta­tou«, haben im Herbst 2003 – zusammen mit elf an Kehlkopfkrebs erkrankten Zivilisten und Soldaten – Strafanzeige gegen Unbekannt wegen der erlittenen radioaktiven Verseuchung gestellt. Im Jahr 2004 haben die beiden Pariser Richterinnen Anne Auclaire-Rabinovitch und Anne-Marie Bellot tatsächlich ein Verfahren gegen Unbekannt wegen fahrlässigen Totschlags und Körperverletzung eröffnet. Mehreren Personen, die sich an der Gründung einer ähnlichen Vereinigung in Algerien beteiligen, wurden dagegen die Visa zur Einreise nach Frankreich verweigert. Nicht alle Opfer zählen offenkundig.